Bindung und Sucht
gewöhnlich als »reinforcement« (Verstärkung) bezeichnet werden.
Hier wollen wir die Rolle dieser Systeme im Kontext psychiatrisch signifikanter Stresserfahrungen kurz zusammenfassen und auch neue psychiatrische Verfahrensweisen wie den Einsatz der THS bei therapieresistenten depressiven Störungen diskutieren (Coenen et al. 2011; Schläpfer et al. 2008). Wir werden dabei den Gedanken vertreten, dass die »Primärprozess«- oder Basisemotionen, die in der Terminologie der affektiven Neurowissenschaften als SEEKING- und PANIC-System bezeichnet werden, von unmittelbarer Bedeutung für das Verständnis der zur Depression führenden Dynamiken und für unseren Umgang mit diesen Dynamiken sind. Die Diskussion eines dieser Systeme, nämlich des PANIC-Systems, erfolgt vor dem Hintergrund der bahnbrechenden Arbeiten von John Bowlby, von dem die anschaulichste Aussage über den engen Zusammenhang zwischen dem Verlust stützender sozialer Bindungen und der Genese der Depression stammt. Gedacht war dabei zumal an den Verlust der Eltern, den kleine Kinder unter Umständen erleiden, und an den Tod des Lebenspartners – Verlusterfahrungen, die heute weithin als bedeutsame Vorläufer der psychischen Verzweiflung gelten, die zur Depression führen kann. Die hier vorgetragene Sicht der Dinge basiert ganz klar auf ebendiesem Gedanken (eine detailliertere Darstellung findet sich bei Watt & Panksepp 2009; zur neuro-psychoanalytischen Perspektive siehe auch Panksepp & Watt 2011; Zellner et al. 2011). Da beide Systeme von grundsätzlicher Bedeutung für die sozialen Bindungen sowohl in der frühen Kindheit als auch im Erwachsenenalter sind, sei hier auch auf den Umstand verwiesen, dass Abhängigkeitsprozesse unterschiedlicher Art auf die Fähigkeit von Drogen zurückzuführen sind, bestimmte affektive Zustände in der Weise zu modifizieren, dass sie fälschlicherweise das Gefühl sozialer Gebundenheit simulieren – ein Gefühl, das von größter Bedeutung für das psychische Wohlbefinden ist.
Basisemotionen und Depression
Was also hat die affektive Neurowissenschaft zur Diskussion über die Genese der Depression beizutragen? Unter anderem nähert sie sich einer Antwort auf die Frage, warum die Depression ein so schmerzliches Gefühl ist – und zwar als die einzige Disziplin, die gezielt die affektive Infrastruktur der entwickelten Psyche in den Blick nimmt. Sie kann damit überprüfbare Hypothesen bezüglich der Beschaffenheit des affektiven Ungleichgewichts und der dynamischen psychischenProzesse anbieten, die zur klinischen Depression beitragen (Solms & Panksepp 2010; Zellner et al. 2011).
Mit anderen Worten, die wichtigste und noch unbeantwortete Frage, von der wir uns bei unseren Überlegungen zur Genese der Depression leiten lassen müssen, lautet: Welches sind die spezifischen Netzwerke des Säugetiergehirns, die negative Affekte generieren und mit ihrer exzessiven Aktivität jene »Kaskaden« physiologisch-psychischer Veränderungen einleiten und in Gang halten, die die Depression kennzeichnen? Wir sind der Ansicht, dass eine Hauptrolle insoweit dem PANIC-System des Gehirns zukommt, das durch die Beschäftigung mit dem »Trennungsweinen« von Jungtieren verschiedener Spezies (zur frühen Zusammenfassung der Arbeit mit Hunden, Meerschweinchen und Küken siehe Panksepp 1981; Panksepp et al. 1980, 1988) präklinisch gut modelliert ist. Unsere These lautet, dass die Verzweiflung, die von diesem System generiert wird, schließlich den Status des dopaminergen (belohnungssuchenden) SEEKING-Systems schwächt, was chronische anhedonische (verzweiflungsvolle) und amotivationale (depressive) Zustände entstehen lässt; diese können in leichten Fällen durch eine Psychotherapie und in Fällen, in denen nichts anderes mehr hilft, durch neue pharmakotherapeutische Konzepte und durch die direkte Tiefe Hirnstimulation des (belohnungssuchenden) SEEKING-Systems behoben werden (siehe Coenen et al. 2011; Schläpfer et al. 2008). Wenn wir die Dinge unter affektivem Vorzeichen betrachten, dann ergibt sich eine Fülle neuer Perspektiven, was die zugrunde liegenden neurologischen und neuropsychologischen Prozesse angeht, mit gewichtigen Implikationen für das Verständnis der Quellen der Abhängigkeitswünsche und des depressiven »Schmerzes« im Gehirn sowie – vor dem Hintergrund dieses Wissens – für die Entwicklung neuer Medikamente (zu den medikamentösen Neuerungen siehe Burgdorf et al. 2010, 2011; Moskal et al. 2011).
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