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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
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Aber dieses Wissen verschaffe ihm kaum Entlastung von seiner Unterwürfigkeit gegenüber ihnen . Vielleicht, so sagte er, wäre das so, weil es in seinem frühen Leben so viele ärgerliche oder wütende Frauen in dieser überlegenen Stellung gegeben hätte und weil deren Macht so viele Formen und Verkleidungen angenommen hätte, dass es ihm nicht möglich wäre, seine konditionierte instinktive Reaktion auf sie zu ändern. Dan gestand, dass sich ihm der Magen in Gegenwart der Therapeutin genauso umdrehte wie in Gegenwart von Mrs. Swartz, seiner einstigen Lehrerin, die offensichtlich großes Vergnügen daran gefunden hatte, ihn den anderen Schülern gegenüber als abschreckendes Beispiel hinzustellen, wann immer seine Mutter ihn in schmutziger Kleidung und mit ungewaschenen Haaren in die Schule geschickt hatte. Wie die Mutter wurde auch seine Großmutter niemals müde, ihm ins Gedächtnis zu rufen, dass er genauso unnütz und wertlos wie sein Vater sei.
    Er machte eine Pause und suchte nach einer Reaktion in ihren Zügen. Die kam mit ihrer ruhigen Aufforderung: »Sprechen Sie weiter.«
    »Und ich konnte diesen Anschuldigungen auch gar nichts entgegensetzen, denn sie hatte recht: Mein Vater war ein richtiges Arschloch – distanziert, egozentrisch und vollkommen unmoralisch.«
    »Unmoralisch?«, fragte die Therapeutin.
    »Ja. Mein Vater versuchte jede Frau aufzureißen, der er begegnete. Und damit hat er uns alle in die größten Schwierigkeiten gebracht. Er war zwar in vieler Hinsicht ein toller Mann, aber er hatte kein Rückgrat und schon gar keine Integrität und keine Moral. Es war nicht gut für mich, dass ich ihm ähnlich sah. Das war mein Fluch. Offensichtlich war es für alle Frauen in der Familie erst recht ein Grund, mich zum Sündenbock für all den Ärger zu machen, den sie mit ihm hatten. Die Vergleiche hörten einfach nicht auf, auch nachdem Dad es fertiggebracht hatte, mich und den Rest der Familie zu verlassen – er machte sich davon und heiratete eine seiner schwerreichen Patientinnen. Das war auch gut, denn die Ärztekammer war drauf und dran, ihm die Approbation zu entziehen, weil er immer versuchte, seine Patientinnen aufs Kreuz zu legen – wörtlich und auch finanziell . Manche von denen und vor allem die zugehörigen Ehemänner schätzten das nicht so besonders. Ich glaube, er hat nie verstanden, dass die meisten Leute ihn nicht so charmant und begehrenswert fanden, wie er nach seiner eigenen Überzeugung war. Ach ja, bevor ich es vergesse: Da war ja auch noch das kleine Problem, dass er zur Überverschreibung von Drogen neigte, und zwar für sich selbst wie auch für andere.«
    Dan war jetzt in einer sehr nachdenklichen Stimmung. Sein Blick wanderte langsam hin und her, so als beobachtete er das Abspulen eines privaten Filmes, der da vor seinem geistigen Auge ablief. Dann sprach er weiter . »Ich habe ein paar Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass meine Mutter dabei keine unschuldige Zuschauerin war, sondern eine eifrige Empfängerin vieler dieser Verordnungen. Sie war nicht besser als er. Die beiden haben einander wahrlich verdient. Während der Scheidung, die chaotisch und öffentlich war, gab es haufenweise unbewiesene Anschuldigungen und wilde Gerüchte über Partnertausch, Drogenorgien, Pornographie und Sexclubs. All das wuchs sich zu einer ganz schönen Sensation in unserem kleinen Landstädtchen aus, und das Lokalblatt hatte seinen großen Tag mit all den widerwärtigen und schmutzigen Details. Kurz nach dem Prozess musste Mama uns dann alle nach Columbus, Ohio, zu ihrer Mutter bringen, um der Lächerlichkeit und der Peinlichkeit zu entkommen. Papa hatte trotz seiner Arztpraxis all sein Geld für Drogen, Sex und Rock ’n’ Roll ausgegeben, und folglich war Mama mittellos. Danach ging es ziemlich rapide bergab mit ihr. Griff wieder zu ihrer Medizin – wie sie es nannte –, um zur Ruhe zu kommen, und blieb süchtig bis zu ihrem Tod vor zweiJahren. Wenn ich jetzt zurückblicke, wobei meine eigene Sucht mir nicht mehr das Hirn vernebelt, dann kann ich mir erklären, warum sie die meiste Zeit halbangezogen durchs Haus taumelte. Meine Mutter war nie ein großes Licht, aber in ihren jüngeren Jahren war sie attraktiv. Ich bin sicher, dass Papa sie nur deshalb geheiratet hat. Sie verlor das alles, als sie älter wurde, und war in diesen letzten paar Jahren ganz schön grässlich. Vor allem wenn sie im Drogenrausch war, konnte man damit rechnen, dass sie nackt durch das Haus wanderte oder

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