Bindung und Sucht
nachts heulend zu mir ins Bett kroch und sagte, ich sei jetzt ihr Männchen. Das konnte alles ganz rasch in Wut und körperliche Attacken umschlagen, je nachdem, wie ›zu‹ sie jeweils war.«
Dan pausierte und sah die Therapeutin erneut an, um zu sehen, ob er fortfahren könne. Sie machte ein Zeichen, das er als Bestätigung auffasste.
»Das Haus, das immer von einer starken sexuellen Spannung erfüllt gewesen war – man hätte sie mit dem Messer zerschneiden können –, geriet in eine noch stärkere Spannung, als meine beiden älteren Schwestern in die Pubertät kamen. In Anlehnung an Mamas Beispiel waren Jeanie und Paula bald sehr gut darin, Sex als Waffe einzusetzen. Sie wussten, welche Macht er über Männer hatte, und sie hätten es keinem Mann möglich gemacht, ihnen anzutun, was Papa unserer Mama angetan hatte. Meine Schwestern hatten auch großes Vergnügen daran, mich mit meinem Körper und mit meiner Sexualität aufzuziehen. Im Bad oder auch in meinem Zimmer war ich nie sicher vor ihren zudringlichen Bemerkungen über meine Genitalien und meinen Körper. Manchmal haben sie es mir ganz schön gegeben.«
Im Gefühl, zu viel gesagt zu haben, brach Dan ab und lehnte sich zurück. Die Therapeutin spürte, dass er fix und fertig war, und sagte: »Manches in dieser Art habe ich schon gehört, aber nicht so viel auf einmal und in dieser Konzentration. Es war ja viel schlimmer, als ich dachte.«
„Da dürften Sie recht haben. Wenn ich mich das alles so erzählen höre, dann fällt mir wieder ein, wie schlimm es wirklich war. Es war viel schlimmer, als ich mir das meistens eingestehe.«
5.) Das Bedürfnis nach Bindung und nach der Responsivität der Selbstobjekte ist ein lebenslanger Prozess, nichts Phasenspezifisches. Bindungstheoretiker wissen, dass sowohl Eins-zu-eins-Bindungen als auch die Bindung an Gruppen oder Netzwerke notwendig sind, weil sie anfangs einer biologischen Funktion dienen, nämlich das Überleben des Individuums zu gewährleisten. Für das noch sehr kleine Kind ist seine Bindung in Augenblicken der Bedrohung oder Gefahr eine Hilfe. Wenn das Kind älter wird, werden dann allerdings die »affiliativen Beziehungen« zu Peers und Gruppen wichtiger, weil diese Beziehungen durch ein Mehr an Wechselseitigkeit und durch eine semantische Ordnung gekennzeichnet sind (Lichtenberget al. 2000). »Affiliative Beziehungen« basieren nicht ausschließlich auf physischer Nähe, sondern werden von einer komplexen Gesamtheit von Bedeutungen und Repräsentationen vermittelt. Wenn langfristige Heilung erreicht werden soll, kommt es ganz entscheidend auf die Fähigkeit an, »affiliative Beziehungen« einzugehen. Das so erfolgreiche Wirken der Anonymen Alkoholiker erklärt sich u. a. damit, dass sie den Betroffenen die Möglichkeit bieten, solche Beziehungen an die Stelle ihres Suchtverhaltens zu setzen.
Es besteht ein sehr subtiles Wechselspiel zwischen Bindung, wechselseitiger Einstimmung und emotionaler Stabilität. Bindungstheoretiker sind sich von jeher über ein bemerkenswertes Paradoxon im Zusammenhang mit ihrem Thema im Klaren: Eine sichere Bindung macht frei (Holmes 1996). Das gilt für das sicher gebundene Kind ebenso wie für den sicher gebundenen Patienten, ob die Behandlung nun durch die Anonymen Alkoholiker oder in Form einer Einzeltherapie erfolgt. So wie das sicher gebundene Kind sich in zunehmend größere Entfernung von der Bezugsperson begibt und bei der Erkundung seiner Umgebung immer mehr riskiert, so wird auch der sicher gebundene Patient bei der Erkundung seiner inneren Welt im Rahmen einer Behandlung allmählich mehr Risiken eingehen.
Mario Marrone (1998) vertritt diese Position, wenn er mit Bezug auf Stern schreibt:
»Stern (1985) machte geltend, dass der essentielle Zustand der menschlichen Existenz das Zusammensein ist und nicht das Alleinsein, mit einem ganz elementaren Gefühl ›der Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Bindung und Sicherheit als gegebene Tatsache‹ (S. 240 [dt. Ausg.: Stern 1992, S. 335]). Er erkannte darüber hinaus, dass die ›Qualität der Bezogenheit‹, also die Bindung, über das anfängliche Band zwischen Mutter und Kind hinausreicht, sich über die Jahre der Kindheit hinweg weiterentwickelt und für die Peers ebenso wie für die Mutter gilt. Stern machte auch deutlich, dass Bindung und Sicherheit in affektiver Verflechtung miteinander stehen« (S. 158).
6.) Die Bindung des Kindes an die Elternperson ist etwas anderes als die Bindung der Elternperson an
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