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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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bemerkte Lena zum Abschied.
    »Na ja, wenn man Kinder haben will«, antwortete Hund, »muss man hin und wieder etwas dafür tun. Verstehst du, was ich meine?«

3    Wie sie sich vornahm, nicht verrückt zu werden
    Es liegt am Geld, sagte Lena. Das Volk wird ohne Geld zu einer furchtbaren Masse, weil es seine Vielfalt verliert. Arme Menschen werden entweder zu Verbrechern oder Philosophen, was anderes gibt’s nicht. Ich hatte zum Beispiel nie Geld, aber zu viel Angst, um klauen zu gehen.
    Lenas Eltern hatten dann und wann Geld, immer wenn sie irgendwo irgendwas mitgehen lassen konnten, was leider nicht sehr oft vorkam, weil die anderen auch nicht dasaßen und Däumchen drehten. Und es war eben nicht genug für alle da. Ein Land von Verbrechern, sagte Lenas Vater und ließ aus der Fabrik, die früher einmal geheime Bauteile für geheime Atom-U-Boote produziert hatte, abgeschriebenen Alu-Draht mitgehen.
    »Wann kriegt ihr endlich den Hals voll?«, brummte Lenas Mutter und schleppte aus der Schokoladenfabrik kiloweise Mainacht -Pralinen nach Hause.
    Vater roch immer nach Aluminium, Mutter duftete nach Schokolade. Zusammen ergab das den befremdlichen künstlichen Geruch einer neuen Zeit, wobei es für Lena keine alte Zeit gab, sondern nur die momentan existierende. Die »anderen Zeiten« waren für Lena nicht fassbar, aber ihr Umfeld erinnerte sich genau. Manche trauerten diesen Zeiten nach, weil damals alles vorgegeben war und bequem nach Fünfjahresplänen lief. In den Geschäften konnte man unter drei vorrätigen Lebensmitteln auswählen. Es gab Baumwollunterhosen. Man hatte ein Sparbuch, auf das man einzahlte, um nach zehnjähriger Wartezeit ein Auto zu kaufen.
    In der neuen Zeit gab es hingegen weder Lebensmittel noch Unterhosen noch Autos. Alle liefen in zerschlissenen und kaputten Sachen herum, und die neue Zeit verhieß nichts Gutes, sondern nur Kinder, die Hunger und nichts zum Anziehen hatten.
    Immer, wenn Butter ins Geschäft geliefert wurde, reichte die Warteschlange der Käufer bis in den nächsten Bezirk. An solchen Tagen schwänzte Lena die Schule, um sich anzustellen. Ihre Mutter ging in die Schokoladenfabrik und kam am späten Nachmittag zu Lena, wenn diese endlich bei der Verkaufstheke an der Reihe war. Man konnte 150 Gramm Butter bekommen, die dann über eine Woche verteilt grammweise gegessen wurde.
    Lena hasste Butter und sagte oft, dass sie nicht begreifen könne, wozu Butter überhaupt erfunden wurde. Sie aß gerne Fleisch, und das am liebsten dreimal täglich.
    Lenas Vater pflegte zu sagen:
    »Die Menschen in Nordkorea wissen nicht einmal, was ›Kalbfleisch‹ heißt.«
    Diese Weisheit hatte er in irgendeiner Zeitschrift gelesen. Lena wusste selbst nicht so genau, was »Kalbfleisch« sein sollte, aber es tat gut zu hören, dass es irgendwem irgendwo noch schlechter ging. Gott sei Dank war das so, denn sonst wäre es hier vollkommen unerträglich gewesen.
    »Ihr wolltet eine unabhängige Ukraine? Das habt ihr jetzt davon!«, hörte Lena die Leute in der Schlange sagen und regte sich sehr darüber auf.
    »Sind Sie denn nicht froh?«, fragte sie. »Die Ukraine war fast dreihundert Jahre lang abhängig. Und jetzt ist sie frei! Wir sollten uns freuen.«
    »Worüber freust du dich denn, Kind?! Dass du dich tagelang anstellen musst?«
    »Na ja«, widersprach Lena nicht mehr ganz so selbstsicher, »das ist nur anfangs so. Später werden wir alle glücklich und reich sein. Weil wir selbst über uns bestimmen.«
    Die neuen Selbstbestimmer antworteten Lena kurz und prägnant: »Halt die Klappe!« Obwohl sie insgeheim die gleichen Hoffnungen hegten.
    Lena stellte sich die Ukraine als ein riesiges Weizenfeld vor: Da und dort lugen Kornblumen und Klatschmohn zwischen den Ähren hervor, der Himmel ist strahlend blau und die Sonne scheint hell und sehr ukrainisch. Die Mädchen tragen bestickte Blusen und haben Blumenkränze auf dem Kopf. Alte Männer in bestickten Fellwesten musizieren auf der Drymba. Jüngere Männer arbeiten am Feld, mähen oder stehen herum und rauchen, und alle sind glücklich und reich. Zweiteres war besonders wichtig und Ersteres direkt proportional davon abhängig und bedeutete eigentlich das Gleiche: Alle sind glücklich und reich.
    Um die neuen Zeiten irgendwie zu überstehen, fingen die Leute an, auszuwandern. Die einen gingen nach Polen, obwohl es dort nicht wirklich besser war, die anderen versuchten ihr Glück in Italien (obwohl die Ukrainer längst selbst zu Italienern

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