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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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hervorsprangen. Die Stimme musste selbstsicher klingen, jedoch nicht zu selbstsicher, denn das ist auch verdächtig.
    Lenas Vater hatte Angst, allein nach Kiew zu fahren, deshalb überredete er seinen besten Freund Tolik, ihn zu begleiten. Tolik war groß und dunkelhaarig. Er sah aus wie ein Musiklehrer. Er hatte lange, schlanke Finger – richtige Klavierhände –, obwohl er eher Geige spielte, wenn er überhaupt musizierte. Tolik hatte zwei Kinder und eine junge Frau.
    Der Vater und Tolik machten sich zusammen auf den Weg nach Kiew. Lenas Mutter verabschiedete die Delegation mit Tränen in den Augen. Lena erzählte ihrerseits allen, dass sie dringend Englisch lernen müsse und die Ukraine bis ans Ende ihrer glücklichen und reichen Tage vermissen würde.
    Aber in Kiew ging etwas schief. Das Gesicht hatte Lenas Vater doch verraten. Oder war es seine Stimme? Vielleicht hatte er vor lauter Angst auch die Namen der »Verwandten« verwechselt. Oder das falsche Hemd angehabt. Oder einfach nur kein Glück gehabt. Jedenfalls verweigerte man ihm das Visum und dazu kam noch das Verbot, es in den nächsten fünf Jahren erneut zu beantragen.
    »Na, wenigstens ist er nicht im Kittchen gelandet«, sagte Lenas Mutter später.
    Tolik allerdings, der ja ursprünglich nur als Begleitung mitgekommen war, wurde ein Visum bewilligt. Anscheinend hatte sein Musiklehrer-Aussehen überzeugend gewirkt. Schuldbewusst packte er seine Siebensachen und fuhr in das Land der vielen Dollars. Nach zwei Jahren kam seine Frau nach. Nach vier Jahren folgten die Kinder. Jetzt lebt Tolik in New York und ist Chef einer Firma, die amerikanische Plastikhäuser baut. An Lenas Vater schrieb er in einem Brief: »Hier gibt es viele Ukrainer. Ich fühle mich, als wäre ich nie weggegangen.« Als wäre das für die Daheimgebliebenen irgendeine Art von Trost.
    Lenas Oma – die mit den amerikanischen Tüchern – konnte sich nicht nur an die alte Zeit erinnern, sondern auch noch an die sogenannte »graue Vorzeit«, als die Proletarier aller Länder sich noch nicht vereinigt hatten, um eines Tages ihren schönen Acker umzupflügen. Wenn sie davon erzählte, sagte sie immer »in der Zeit, als hier noch Österreich war«. Manchmal irrte sie sich aber und sagte »als hier noch Polen war«, wobei sie höchstwahrscheinlich dasselbe meinte. Für Lenas Oma war das die beste Zeit ihres Lebens. Vermutlich weil sie damals jung und hübsch war, alle ihre Zähne hatte und saure Gurken essen konnte. Lena war allerdings bei diesen Erzählungen nie klar, ob die Menschen damals über Geld verfügt hatten. Sie vermutete, dass sie keines hatten, denn schließlich galt Reichtum in diesem Land als etwas Schändliches. Wenn man reich ist, halten die Leute einen entweder für einen Dieb oder für bestechlich.
    Als sie noch klein war, musste Lenas Oma allein ein endlos weites Feld pflügen. Ihr Vater – den die Oma »Djedjo« nannte, weshalb Lena immer dachte, sie meine ihren »Djadja«, also ihren Onkel – zog in den Ersten Weltkrieg und schickte Fotos, und er schickte sie auch nach dem Krieg, und auch noch zehn Jahre später, und als bereits ein neuer Krieg begonnen hatte.
    Zuerst lebte er eine Zeit lang in der Tschechoslowakei, dann ging er nach Österreich und wanderte schließlich nach Amerika aus, wo seine Kinder oder Enkelkinder später die glorreiche Idee hatten, Holzkisten mit Kopftüchern und Süßigkeiten »hinüber« zu schicken. »Djedjo« war einfach fortgeblieben.
    Lenas Oma kannte viele ähnliche Geschichten und sie erzählte sie erstaunlicherweise ganz ohne Verbitterung. Im Gegenteil, ein bisschen verteidigte sie die Auswanderer sogar. »In diesem Haus da drüben«, sagte sie, »ist der Mann auch nicht zurückgekommen, und die Frau ist vor Kummer und Scham wahnsinnig geworden. Und in dem anderen Haus da waren neun Kinder. Die Mutter hat sie alle eingesperrt und sich mit ihrem Liebhaber nach Amerika abgesetzt. Die Kinder haben drei Tage lang im Haus auf sie gewartet. Keinen Mucks haben die von sich gegeben, und als die Nachbarn dann Alarm geschlagen haben, waren vier von den Kindern tot.«
    Oma schmatzte mit ihrem zahnlosen Mund: »So ist das.«
    Und sie fügte noch hinzu: »Am Ende wird alles gut.«
    Lena antwortete: »Nicht alles.«
    In das Dorf, in dem Lenas Oma lebte, kamen eines Tages polnische Priester, um die katholische Kirche zu sanieren.
    Ein halbes Jahrhundert lang hatte diese Kirche mitten im Ort als Ausstellungsfläche für Toilettenkunst gestanden. Der

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