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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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geworden waren, da sie sich ausschließlich von Nudeln ernährten) oder in Portugal – einem Land, über das Lena gar nichts wusste.
    Lenas Vater hatte ebenfalls beschlossen auszuwandern.
    Die Eltern saßen am Küchentisch und unterhielten sich nach dem allabendlichen Nudelgericht:
    »Bitte fahr endlich!«, sagte Mutter. »Fahr, sonst krepieren wir.«
    »Was willst du, wohin soll ich fahren?! Wohin?«, fragte Vater.
    »Nach Italien. Myrossja, die ich von der Arbeit kenne, ist hingefahren. Sie schickt immer Riesensummen heim.«
    »Bin ich die Myrossja, oder was? Sie arbeitet dort garantiert nicht mit ihren Händen.«
    »Womit denn sonst, deiner Meinung nach?! Sie hat Fotos geschickt. Sie wohnt in einer Villa, bei einem alten Ehepaar. Sie kümmert sich um die beiden und hat alles. Wirklich alles! Sie kriegt Essen, Kleidung, und einen Tag im Monat bekommt sie frei. Sie hat sich die Haare schön machen lassen, sieht jetzt schick aus.«
    »Dann fahr doch selber!«
    Mutter schwieg.
    »Nach Italien fahre ich nicht, wegen der Mafia«, verkündete Vater schließlich.
    Er schaute im Fernsehen ständig »Allein gegen die Mafia«, eine italienische Fernsehserie über einen ehrlichen Polizeikommissar, der allein gegen die übermächtige Mafia ankämpft. In der Fernsehserie wirkte es so, als steckte das ganze Land mit der Mafia unter einer Decke, nur Kommissar Cattani war der einzige aufrechte Kämpfer. Wofür er dann auch teuer bezahlte. Man warf ihn in ein Schwefelsäurebecken, seine gesamte Familie wurde ausgerottet, aber er blieb unerbittlich. Er war eben ein ehrlicher Held. Leider wurde er schließlich erschossen, und damit endete die Serie.
    »Ich fahre nach Amerika«, verkündete Vater.
    »Nach Amerika?« Mutter wagte nicht einmal daran zu denken. »Amerika ist auch gut!«
    Das mit Amerika ist eine ganz eigene Geschichte, die vermutlich jeder kennt. Amerika ist der Himmel auf Erden. Die Straßen sind mit Dollars gepflastert: Nimm, so viel du willst! Allerdings gibt es viele Schwarze in Amerika – ehemalige Sklaven. Wenn man sie anschaut, muss man lachen, obwohl man nicht lachen darf, sonst wird man erschossen. In Amerika haben nämlich alle Pistolen. Kinder schießen zum Beispiel auf Erzieher und Lehrer, wenn ihnen etwas nicht passt. Aber alle sind damit einverstanden, denn ein kurzes Leben mit Dollars ist besser als ein langes ohne.
    Die entfernte amerikanische Verwandtschaft von Lenas Oma schickte jedes zweite Jahr eine Holzkiste mit Tüchern und Süßigkeiten, die nach dem Transport über den Ozean immer vergammelt ankamen. Aber Oma mochte die Tücher und nannte sie »die amerikanischen Tücher«. Zu Lena pflegte sie zu sagen: »Kindchen, hol mir das amerikanische Tuch aus dem Schrank.«
    »Kannst du denn eigentlich Englisch?«, fragte Lenas Mutter.
    »Hab ich auf der Uni gelernt«, antwortete Vater. » Do you speak English? Yes, I do ! Ich habe auch Deutsch gelernt, mach dir also keine Sorgen, ich komme schon zurecht! Sprechen Sie Deutsch?Natürlich! «
    Um nach Amerika auszuwandern, musste Lenas Vater eine Green Card »gewinnen«. Diese Karten gab es in jedem Hinterhof zu kaufen. Man brauchte nur das Geld hinzublättern und konnte praktisch schon losfahren. Allerdings waren die Karten teuer und für Lenas Vater unerschwinglich. Die billigere Variante bestand darin, im gleichen Hinterhof eine gefälschte Einladung von nicht existierenden amerikanischen Verwandten zu kaufen – eine Einladung, in der die Verwandten auf Knien darum flehten, sie für einen Monat zu besuchen. Sie versprachen, für alles aufzukommen, würden den Besuch verpflegen und sich um ihn kümmern, als wäre er das eigene Kind. Das Wichtigste in dieser Angelegenheit war, die Namen der Verwandten richtig zu behalten und beim Vorsprechen in der amerikanischen Botschaft einen gelassenen Gesichtsausdruck zu präsentieren. Das Gesicht musste Vertrauen erwecken. Es musste den Konsulatsmitarbeitern versichern: Macht euch keine Sorgen, ich komme auf jeden Fall zurück, ich bleibe nur für einen Monat als Gast und fahre danach sofort wieder nach Hause, so schnell werden die dort gar nicht schauen können! Das Letzte, was ich brauche, ist euer Amerika mit seinen ehemaligen Sklaven und Pistolen. Mir geht es auch hier nicht schlecht. Die Ukraine ist ja wohl ein wahres Wirtschaftswunder.
    Genau so musste man auftreten.
    Lenas Vater übte einen ganzen Monat lang vor dem Spiegel. Er trainierte seine Mimik, damit die Adern nicht vor Angst eine nach der anderen

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