Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
ins Haus anstatt in den Abzug strömt, er hatte früher als Ofenbauer gearbeitet. Alles war bereit, es war angerichtet.
Allerdings hatte er seinen Wodka-Konsum nicht einberechnet. Nach einer Weile nickte er neben dem Ofen ein.
Shenja hatte an jenem Abend eigene Pläne, sie wollte unbedingt im Krankenhaus vorbeischauen, um mit der Chefärztin zu sprechen. Sie machte sich Sorgen um die Gesundheit ihres Sohnes, der Arme hatte da so ein Zwicken in der rechten Seite. Die Chefärztin war eine verständnisvolle ältere Frau. Sie gab Shenja die Reste ihres Abendessens und ließ sie zwecks Prävention in einem freien Krankenzimmer übernachten. Als Shenja am nächsten Morgen nach Hause kam, um ihrem Kleinen Frühstück zu machen, war er schon kalt. Die Dorfbewohner hatten nie zuvor jemanden bei einem Begräbnis so um den Verstorbenen weinen sehen. Shenja schrie: » Ich hätte sterben sollen! Ich! Nicht du!«
Lenas Oma schmatzte mit ihrem zahnlosen Mund: »So ist das. Solche Menschen gibt es.«
Aber da gab es noch ganz andere.
Zum Beispiel welche, die sich einen ganzen Monat lang von einem einzigen Schweinskopf ernährten. Lena hatte sie am Bahnhof kennengelernt. Die beiden – vermutlich ein Ehepaar (oder zumindest ein Pärchen) – saßen auf einer Bank. Sie hatten aufgedunsene blaue Gesichter, trugen schreckliche, schmutzige, unförmige Sachen und rauchten.
Lena fragte:
»Was essen Sie eigentlich?«
Die Frau lachte. Rote Lippenstiftreste, die wie Blut aussahen, klebten an ihrem Mund.
»Willst du das wirklich wissen?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Lena.
Neben ihnen standen zwei halbvolle Flaschen Bier auf der Bank.
»Schau«, sagte die Frau, »wenn wir am Anfang des Monats die Invaliditätsrente bekommen – ich bin nämlich arbeitsunfähig –, dann gehen wir gleich auf den Markt und kaufen einen Schweinskopf. Zu Hause zerlegen wir ihn und frieren ihn ein. So haben wir den ganzen Monat was zu essen. Wir kochen Sülze, Suppen … Na ja, das Geld reicht für nichts anderes.«
Es gab Leute, die ihre Kinder an einem Tischbein festbanden, damit ihnen nichts zustieß, während sie allein zu Hause waren.
Es gab auch welche, die ihre Kinder nicht festbanden und die Kleinen tun und lassen ließen, was sie wollten, zum Beispiel Blumen aus dem neuen Tischtuch ausschneiden und feinsäuberlich auf dem Boden auslegen, wie dieser Fünfjährige aus Horodenka. Als die Erwachsenen nach Hause kamen, waren sie sehr verärgert. Der verängstigte Junge versteckte sich unter seinem Bett, der Vater zog ihn hervor und drosch dabei mit dem Gürtel auf die Hände des Buben ein. Er schlug ihn so hart, dass dem Kleinen im Bezirkskrankenhaus beide Hände amputiert werden mussten. Beim Verlassen des Krankenhauses sagte der Junge zu seinem Vater – alle Ärzte und Krankenschwestern bekamen es mit und die Regionalzeitungen berichteten darüber: »Papa, ich werde nie mehr Blumen aus dem Tischtuch ausschneiden, gib mir nur bitte meine Hände zurück.«
Es gab eine große Menge verschiedene Menschen und ihre Geschichten. Lena versuchte sie alle zu statistischen Zwecken im Kopf zu behalten, um später einmal zu verstehen, woher das Übel in der Welt kommt. Damals schien es aus der Armut zu entstehen. Jemand, der ständig nur ans Geld denkt, hat keine Zeit, an sich zu arbeiten, um ein besserer Mensch zu werden. Böse zu sein ist einfach. Dazu braucht es keine Anstrengung. Wenn man ein guter Mensch sein will, muss man sich Mühe geben. Man muss geistig wach sein, mindestens acht Stunden Schlaf pro Nacht bekommen, auf seine Ernährung achten, Sport treiben und an der frischen Luft spazieren gehen, am besten in einem Park. Nach Lenas bescheidener Statistik taten die Menschen in ihrem Umfeld nichts dergleichen. Sie tranken viel, schliefen wenig, ernährten sich von Nudeln und Kartoffeln, und wenn sie nicht in der Arbeit waren, hockten sie zu Hause vor ihren Fernsehern. Die Umstände waren für den Zugewinn an Güte in der Gesellschaft nicht gerade förderlich. Dagegen wollte Lena etwas unternehmen.
Ursprünglich war Lena weit davon entfernt, die Welt retten zu wollen. Ich glaube kaum, dass die Welt jemanden braucht, der sie rettet, sagte sie. Was scheren mich die Nordkoreaner, die nicht wissen, was Kalbfleisch ist, die nicht einmal das Wort »Kalbfleisch« kennen. Was scheren mich die hungernden Afrikaner am Nilufer und die armen indonesischen Kinder, die mit drei Jahren schon ausgebeutet werden. Mir ist das alles egal, weil ich es nicht sehe
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