Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
nur ein Auge auf der Stirn oder auf der Schulter und keinen Nacken. Die Kynokeph… Kynokephalen haben einen Hundekopf und können gleichzeitig bellen und sprechen!«
Das Publikum kugelte sich vor Lachen. Lena lachte mit. Der bärtige Künstler sagte in ernstem Ton zu Teofil Karnickel:
»Herr Professor, was wollen Sie mit der Biologie? Sie haben doch angeblich Literatur unterrichtet!«
»Das ist die Naturphilosophie von Theophan Prokopowytsch«, erwiderte Teofil Karnickel, den Tränen nahe, doch wie immer hörte ihm keiner zu.
Mila war noch längst nicht fertig. Sie rief von ihrer Tribüne:
»Herr Professor, wissen Sie noch, wie Sie uns erzählt haben, dass es behaarte Schildkröten gibt?«
Karnickel wurde lebendiger.
»Ich erinnere mich. Die grünflügeligen Schildkröten. Sie sind in der chinesischen Provinz Henan beheimatet. Athanasius Kircher hat sie in seiner illustrierten Enzyklopädie über das Kaiserreich China beschrieben.«
»Jetzt hören Sie doch auf, Herr Professor! Jetzt sollen diese behaarten Schildkröten auch noch fliegen können? Jetzt reicht’s aber. Ich habe mir die Mühe gemacht und das einmal nachrecherchiert. Und siehe da, es handelt sich um ganz gewöhnliche Schildkröten! Sie haben keine Haare auf dem Panzer! Das geht gar nicht! Und das wissen Sie, Herr Professor, ganz genau. Auf dem Panzer können keine Haare wachsen.«
»Doch«, widersprach Karnickel, während er seine Flasche leertrank, »in manchen Fällen schon, wie zum Beispiel bei den grünflügeligen Schildkröten aus der Provinz Henan.«
»Eben nicht, Herr Teofil Karnickel! Ich habe nachgelesen. Die Schildkröten haben keine Haare auf dem Panzer, sondern Algen und Moos! Hören Sie mich? Sie sind einfach nur sehr alt und leben im Sumpf. Deshalb werden sie mit der Zeit von Algen überwuchert, die wie Haare aussehen. Das sind aber keine Haare, Verehrtester, sondern Algen! Algen sind das!«
In seiner Verzweiflung ließ Teofil Karnickel die Mützen liegen, wo sie waren, und flüchtete vom Marktgelände.
Die Ungeheuer und Schildkröten hingen ihm noch sehr lange nach. Die Marktintellektuellen nannten ihn einmal »Kynokephaler«, dann wieder »Skiapod«.
»Skiapod« hat sich in den späten Neunzigern generell eingebürgert und bezeichnet so ziemlich alles, worüber man sich lustig machen kann.
Mila warf die Mitschrift aus den unseligen Vorlesungen weg, doch Lena fischte sie aus der Mülltonne und blätterte darin, wenn es die Zeit erlaubte. Besonders mochte sie den Anfang:
»Liebe Studenten! Ich bitte euch, mir alles unhinterfragt zu glauben. Auch wenn ihr das Gefühl habt, dass ich lüge. Bitte glaubt alles, was ich euch erzähle, denn in dieser Welt ist alles möglich. Wirklich alles, was man sich nur vorstellen kann. Es gibt weder Wahrheit noch Lüge. Es gibt nur das, was gesagt wird. Wenn es gesagt wird, existiert es auch. Blaise Pascal hat seinem Pfarrer vor dem Tod gesagt, dass er an alles glaubt, und zwar aus tiefstem Herzen. Ich bitte euch, genauso zu glauben. Pascal hat auch gesagt, dass die ganze Welt den Menschen belügt, und zwar bewusst belügt, damit der Mensch nicht zur Wahrheit gelangt. Die Suche nach der Wahrheit ist jedoch der nächste Schritt. Denn erst wenn ihr an alles glaubt, werdet ihr bereit sein, die Wahrheit in der verlogenen Welt zu finden.
Und denkt daran: es ist besser, zu viel über die Welt zu wissen, als zu wenig. Ihr solltet für alles offen sein, was die Welt euch zu sagen hat. Denn wenn ihr diese Welt verlasst, kommt ihr in keine andere. Es lohnt sich nicht, seine Faulheit mit Spinnereien über andere Welten, in denen man das Versäumte nachholen könnte, zu rechtfertigen. Es gibt keine anderen Welten. Wenn es die gäbe, würde Gott sie nicht vor uns verstecken. Gott hat keinen Grund, seine Größe zu verbergen.«
Auf dem Markt bekam Lena ihren ersten Kuss und schämte sich später in Grund und Boden dafür. Sie behauptete, der Schweinskopf sei an allem schuld.
Das Alkoholikerpärchen vom Bahnhof ließ ihr keine Ruhe. Also beschloss Lena, den zuständigen Schweinskopf-Verkäufer zu finden und mit ihm zu reden. Das erwies sich auch gar nicht als besonders schwierig, weil Schweinsköpfe nur an einem einzigen Ort verkauft wurden.
Man konnte da nicht nur ganze Köpfe kaufen, sondern auch einzelne Ohren. Es gab Wirbelsäulen ohne Fleisch, Schwänze ohne Haut, nur Haut, und sogar Zähne konnte man separat kaufen, wenn man wollte. Außerdem wurden Kuhzitzen und Stierhoden angeboten. Der
Weitere Kostenlose Bücher