Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
jetzt heiraten, oder was?«
»Erst nach dem Studium.«
Mischa lachte und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Lena konnte allerdings die ganze Nacht nicht schlafen. Sie bekam Schüttelfrost und Fieber. Ihre Kindheitsgespenster standen im Halbkreis um ihr Bett herum und schüttelten traurig die Köpfe, als wollten sie sagen: Schau an, schau an, unsere Kleine ist jetzt groß und sehnt sich nach Liebe, na sowas! Später sagte Lena, um sie herum hätte es kein Geld, kein Gewissen und keine Liebe gegeben. Niemand liebte irgendjemanden, alle duldeten einander nur. Und das taten sie, weil sie keine andere Möglichkeit sahen. Zumindest schien es so. Der Einfachheit halber nannte man das »Liebe-ohne-Ausweg«. Lenas Eltern »liebten« einander und alle ihre Nachbarn und Bekannten »liebten« einander. Bei genauerer Betrachtung konnte man aber sehr leicht eine kaum verhohlene Verachtung feststellen, wenn »die Liebenden« miteinander redeten oder ihre Schultern sich zufällig berührten. So hassen einander Tiere, die in einem Käfig zusammengesperrt sind. Ohne gerechtfertigten Grund, einfach weil die Luft zum Atmen für zwei nicht ausreicht.
Bei mir wird alles anders, sagte Lena, ich werde niemanden nur deswegen hassen, weil ich keine Luft bekomme.
Am nächsten Tag war sie bereits frühmorgens auf dem Markt. Mischa zeigte ihr die kalte Schulter, tat so, als hätte er wahnsinnig viel zu tun, obwohl die Schweinsköpfe so früh am Vormittag keine Abnehmer fanden. Diejenigen, die sich davon ernährten, mussten am Morgen ein ganz anderes lebenswichtiges Problem lösen: Schnaps gegen den Kater zu finden.
»Warum schaust du mich nicht an, Mischa?«, fragte Lena.
»Hör zu, ich habe jetzt keine Zeit zum Quatschen.«
»Was machst du so Wichtiges?«
»Ich muss die Ware vorbereiten.«
»Was gibt’s da zum Vorbereiten? Abhacken und auf die Theke legen.«
»Mädel, gib Ruhe! Musst du nicht in die Schule?«
»Wir haben heute frei.«
»Seit wann ist Montag schulfrei?«
»Mischa«, sagte Lena ernst, »liebst du mich nicht?«
Mischa legte frische Stierhoden vor ihr auf die Theke. Er sagte:
»Was hat das mit Liebe zu tun?«
»Wie meinst du das?«
»Wir haben uns einmal geküsst und ich soll dich schon lieben?«
»Nicht?«
»Nein.«
»Wieso wolltest du mich dann unbedingt küssen?«
»Ich wollte mit dir ins Bett.«
In Lena stieg ein böser Verdacht auf.
»Hast du den beiden Fleisch verkauft, wie ich dich gebeten habe?«
»Lena, du musst zum Psychiater.«
»Wieso?! Weil ich ihnen helfen wollte?«
»Die scheißen auf deine Hilfe!«
»Das war meine Sache! Mein Plan! Ich habe dich bezahlt!«
»Nimm dein Geld und hau ab.«
Mischa gab Lena ihr Geld zurück, sie zählte nach und ging zum Bahnhof.
Im Bahnhofspark fand Lena nur die Frau vor, die, wie üblich, rauchte und Bier trank. Sie trug Shorts, ihre nackten Beine waren wund und mit blauen Flecken übersät. Vermutlich hatte sie am Vorabend einen schwierigen Heimweg.
»Wo ist Ihr Mann?«, fragte Lena.
»Hast du Feuer?«, fragte die Frau.
»Sie rauchen doch schon.«
Die Frau warf ihre Zigarette unter die Bank und schenkte Lena ein Zahnlückengrinsen.
»Jetzt nicht mehr.«
»Wo ist Ihr Mann?«, fragte Lena wieder.
»Welchen meinst du? Den Iwan? Keine Ahnung, der schläft vermutlich irgendwo, der Drecksack. Oder meinst du den Petro?«
»Haben Sie denn zwei Männer?«
»Was heißt zwei! Einen ganzen Sack voll!«
Lena setzte sich zur Frau auf die Bank und fragte:
»Warum trinken Sie eigentlich?«
Die Säuferin hatte diese Frage offensichtlich schon eine Million Mal beantwortet. Und sie war sehr überzeugend. Sie brüllte los, und ihre Stimme hallte durch den ganzen Bahnhof:
»Was bleibt mir denn?!«
Lena beschwichtigte:
»Keine Ahnung. Irgendwas. Arbeiten, Kinder kriegen oder, na ja, anders leben …«
»Weißt du was?!« Die Frau sprang auf, war aber zu betrunken, um Lena eine zu knallen. »So was Dreistes! Wie kann man nur so schamlos sein! Mir fehlen einfach die Worte! Du hast überhaupt kein Gewissen!«
Lena konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie werden und was sie studieren wollte. Sollte sie Fremdsprachen studieren, um zu übersetzen? Oder Jus, um Verbrecher zu verteidigen? Oder Philosophie, um Philosophin zu werden? Letztere Studienrichtung reizte sie am meisten, dabei war Lena gar nicht klar, was Philosophen eigentlich in der Praxis tun.
Auf dem Markt traf Lena einmal eine ältere Frau, die vierzig Jahre lang Philosophie unterrichtet und
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