Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
und nicht höre. Einzig dieser Schweinskopf will mir nicht aus dem Kopf gehen. Hund geht mir nicht aus dem Kopf. Shenja Prokopowytsch und dieser Junge ohne Hände aus Horodenka gehen mir nicht aus dem Kopf. Gegen all das muss ich etwas unternehmen, um selbst in dieser Welt besser zurechtzukommen und nicht, so wie die anderen, verrückt zu werden.
4 Skiapoden, Arimaspen und andere Kynokephale der Naturphilosophie
1996 ging dann endgültig alles den Bach runter, und San Francisco versank im schwarzen Wasser des freien Marktes.
Vaters Fabrik, die früher einmal geheime Bauteile für geheime Atom-U-Boote hergestellt hatte, wurde in einen Nachtclub verwandelt. Mutters Schokoladenfabrik wurde zu einer illegalen Wodkabrennerei. Wie alle anderen Ukrainer wurden die beiden sich selbst überlassen und es gab nichts mehr zu stehlen. So ergeht es Dieben immer, stellte Lena fest, am Schluss stehen sie noch ärmer da als zuvor.
Aber am Ende wird immer alles gut. In die jungfräulichen postkommunistischen Seelen hatte ein neues amerikanisches Wort mit voller Kraft Einzug gehalten: »Business«. Allerdings erhielt es hier eine etwas andere Bedeutung: Wenn man dem Staat nichts mehr stehlen kann, muss man sich eben gegenseitig bestehlen.
Auf diesem Grundsatz basiert die ganze Weltwirtschaft, sagte Lenas Vater. Betrüge deinen Nächsten, sonst kommt der Übernächste und betrügt euch beide.
Alle fingen an, Business zu machen. In der Praxis bedeutete das, einen Stand auf dem Markt zu haben.
Im Stadtzentrum von San Francisco wurden mehrere denkmalgeschützte Häuser aus dem 18. Jahrhundert abgerissen, das Gelände umzäunt und ein riesiges Marktgebiet eingerichtet. Der Markt wurde nun zum eigentlichen Zentrum, und zwar in vielfachem Sinne: wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell und geistig. Wer etwas zu verkaufen hatte, verkaufte es, wer Geld hatte, ging einkaufen, und wer nichts hatte, der schlenderte zwischen den Ständen umher und inhalierte den verführerischen Duft von chinesischem Kunstleder und Synthetik. Alle waren sie hier, mindestens einmal die Woche, am Sonntag. Hier wurde die Hoffnung auf bessere Zeiten genährt und die kollektive Depression geheilt. Auf dem Markt machte die halbe Universitätsbelegschaft ihre Geschäfte ebenso wie die Ärzte, Lehrer, Journalisten, Künstler, Schriftsteller, Chorsolisten und Schauspieler aus dem Stadttheater.
Auf dem Markt diskutierte man über Postkolonialismus und Globalisierung, über zeitgenössischen europäischen Film und Postmoderne, über Andy Warhol, Gabriel García Márquez, Kurt Cobain und über Dekonstruktivismus. Wenn abends keine Kunden mehr da waren, man aber noch keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, fand sich oft jemand, der auf die Regale mit den Trainingsanzügen stieg und eigene oder fremde Gedichte vortrug. (Trainingsanzüge waren übrigens die meistgefragte Ware. Man hätte glauben können, die ganze Stadt oder das ganze Land mache nichts anderes als Sport.)
Die anderen klatschten Beifall, rauchten und tranken.
Lena fiel damals auf, dass die Intellektuellen niemals billigen Alkohol tranken. Selbst wenn kein Geld da war, kratzten sie ihre letzten Münzen zusammen. Das war eine Frage der Ehre.
Manche gaben Lieder zum Besten. Andere zeigten Zaubertricks. Lena mochte diese Marktdarbietungen. Sie war ein häufiger Gast, weil ihre Eltern auch ein Business hatten. Die Mutter verkaufte Ausgehanzüge und schicke Damenkostüme, während der Vater sich als Ladearbeiter verdingte. Lena half ihnen abwechselnd.
Lenas Vater war als Verlader miserabel, wahrscheinlich, weil er Schiffe bauen konnte. Es gab ständig Beschwerden über ihn, und man drohte ihm mit Kündigung, denn anstatt einfach zu verladen, dachte er sich ständig irgendwelche kruden Vorrichtungen aus, die ihm die Arbeit erleichtern sollten: neue Technologien zum Ver- und Entladen, komplizierte Mechanismen und eiserne Mini-Ladekräne. Mit anderen Worten: Er steigerte die Effizienz.
Der Chef brüllte Lenas Vater an:
»Nimm die Hände! Die Hände sollst du nehmen! Du musst nichts erfinden, einfach Kiste nehmen und stapeln!«
Lenas Mutter war eine geschickte Verkäuferin, trotzdem ließen sich die Kostüme und Ausgehanzüge nicht so recht absetzen. Die Leute hatten keine Anlässe zum Ausgehen. Mutter redete ständig darüber, von den Anzügen auf Unterwäsche umzusatteln, denn Unterhosen fänden immer reißenden Absatz. Man kann noch so arm sein, aber den blanken Hintern will dann doch keiner
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