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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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herzeigen.
    Die Kostüme und Ausgehanzüge stanken bestialisch und sprühten im Dunkeln Funken wie ein Neujahrsbaum. Auf den Etiketten stand nicht, bei wie viel Grad man dieses Wunderwerk der Textilerzeugung waschen sollte, dafür gab es ein Symbol wie auf den Dosen von Deosprays: von Feuer fernhalten, leicht entzündlich. Lena vermutete damals, die Anzüge seien speziell für Kunden des Krematoriums entwickelt worden, um Energie zu sparen. Man bräuchte nur ein einziges Streichholz anzuzünden und der Leichnam würde sofort von selbst verbrennen. Das ist kostengünstig und zugleich schön.
    Lena besaß zwei solcher Kostüme, ihre Mutter drei, und ihr Vater trug stur seine einzigen Jeans und beharrte darauf, dass Jeans ein Symbol für Demokratie seien. Jeans hätten die Sowjetunion zu Fall gebracht. Lenas Vater war sehr froh darüber und blieb seinen Jeans bis heute treu.
    Wie es sich für einen Angestellten einer geheimen Fabrik gehörte, war er Mitglied der kommunistischen Partei, doch Ende der 80er-Jahre, als die Zeichen auf Sturm standen, gab er als Erster sein Parteibuch ab. Und zwar in Jeans. Der Mann hinter dem Schreibtisch, der die Parteibücher entgegennahm, blickte Lenas Vater abschätzig an und sagte:
    »Ach, ihr habt doch alle kein Gewissen!«
    Ein Gewissen hatte Lenas Meinung nach allerdings niemand. Und es machte auch Spaß, keines zu haben. Die Intellektuellen vom Markt, die Lena allabendlich sah, hatten ihres auch schon längst abgegeben und machten sich über alles und jeden lustig.
    Auf dem Markt arbeitete ein ehemaliger Professor für ukrainische Literatur namens Teofil Karnickel. Kein Tag verging, ohne dass dieser arme Mann ausgelacht wurde. Als erstes zog man ihn mit seinem Namen auf, denn Teofil Karnickel war ein Pseudonym, das der Professor sich mit siebzehn selbst zugelegt hatte, später wurde er nur noch verspottet.
    Der Professor ging zum Verkaufen auf den Markt, als würde er zum Unterrichten an die Universität gehen: mit einer schwarzen Aktentasche, in einem alten, aber gepflegten Ledermantel, mit Brille und Krawatte. Er war groß und hager, leicht gebeugt, als schämte er sich für irgendetwas oder als hätte er einen Schicksalsschlag erlitten. Teofil Karnickel verkaufte alle möglichen Kopfbedeckungen, von Strohhüten über Schirmmützen bis hin zu Fellmützen mit Ohrenklappen. Der Handel ging schlecht, was kein Wunder war, denn Teofil Karnickel hatte keine Ahnung von dem, was er verkaufte. Und wenn er verzweifelt versuchte, Kunden anzulocken, dann klang das in etwa so:
    »Kaufen Sie diese Mütze, Ihr Kopf wird größer wirken, und niemand wird erfahren, dass er leer ist.«
    Teofil Karnickel war offiziell anerkannter Misanthrop. Er hasste aber nicht nur Menschen, sondern alles, was man sich nur vorstellen kann. Er verabscheute Kommunisten und Nationalisten, er konnte weder Kinder noch Rentner ausstehen, er hasste den Markt, die Strohhüte, die Universität, an der er Professor war, und die Literatur, die er unterrichtete. Der Verkäufer an Karnickels Nachbarstand, ein lebenslustiger bärtiger Geselle, den alle »Künstler« nannten, sagte:
    »Wer hat dir eigentlich so einen dämlichen Namen verpasst? Wie kann man bitte so heißen? Teofil Karnickel! «
    »Das geht dich einen Scheißdreck an«, antwortete Teofil Karnickel.
    Der Professor drückte sich immer sehr derb aus, verwendete aber niemals russische Schimpfwörter, er war der Meinung, das hungrige Proletariat habe dieses Vokabular diskreditiert. Das Proletariat war Karnickels allerliebstes Hassobjekt. Lena nannte er zum Beispiel »gottverdammtes Kind des Proletariats«, aber Lena grämte sich nicht besonders darüber, da ihr ohnehin nicht ganz klar war, was die Phrase bedeutete.
    »Du wirst das Wesen der Dinge nie begreifen«, behauptete Teofil Karnickel einmal mitleidig in Lenas Richtung, »es bleibt dir durch deine Geburt versagt, dir fehlen einfach die entsprechenden Gehirnwindungen. Du Arme wirst dich dein Leben lang abquälen und es dennoch nie verstehen.«
    »Was haben Sie denn Großartiges verstanden, Herr Karnickel?«, fragte Lena.
    »Was ich verstanden habe, wird dir immer verwehrt bleiben, du Totgeburt des Proletariats. Du würdest es nicht verstehen, weil du die entsprechenden Begriffe gar nicht kennst.«
    Aber dann stellten sich andere Wissenschaftler und Kulturschaffende hinter Lena, Mila etwa, eine abgehalfterte Schauspielerin, die in zwei Filmen mitgespielt hatte und jetzt Glaswaren des Typs »böhmisches Kristall«

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