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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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sogar eine Dissertation zum Thema »Sinn des Lebens« geschrieben hatte. Lena fragte sie, was der Sinn des Lebens sei und worum es in der Dissertation ginge. Die Frau konnte die Frage nicht beantworten. Sie meinte lediglich: »Na ja …« und sonst nichts. »Na ja« war wohl das Einzige, was man über den Sinn des Lebens sagen konnte, schlussfolgerte Lena.
    Lenas Vater sagte ebenfalls »na ja«, nachdem ihm sein lukrativer Job als Ladearbeiter gekündigt wurde. Aber er verzagte nicht. Er war keiner, der leicht aufgab. Verlader, sagte Lenas Vater, ist ein aussichtsloser Job, ich hab noch mein ganzes Leben vor mir. Ich werde in die Landwirtschaft einsteigen! Zuckerrüben anbauen. Oder Kartoffeln. Das muss man sich genau überlegen, je nachdem, was mehr Gewinn abwirft. Ich werde Großbauer. Großgrundbesitzer. Landwirtschaft hat goldenen Boden. Wer sät, der erntet auch.
    Land gab es rundum wirklich genug – nimm, so viel du willst! Niemand riss sich sonderlich darum, weil es nichts gab, womit man die Felder hätte bearbeiten können. Für ein paar Ar konnte man auch eine Harke zur Hand nehmen, aber bei ein paar Hektar sah die Sache ganz anders aus. Die Kolchosenbetriebe und Landmaschinenhallen waren geplündert und von Holundersträuchern überwuchert. Die ehemaligen Kolchosengrundstücke wurden an glückliche Bauern verteilt, die nicht einmal wussten, welcher Hektar wem gehörte. Die Felder verwilderten, Wiesenblumen und Hagebuttensträucher nahmen überhand.
    »Das passt schon so«, sagte Lenas Vater verträumt, »ich werde mich ein bisschen einlesen und ins Landwirtschaftsbusiness einsteigen. Ich werde der Wegbereiter sein. Man darf so eine Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Alle werden bald vom Verkaufen auf dem Markt genug haben und sich aufs Landleben stürzen – und ich bin schon längst da!«
    Sein Urgroßvater – Lenas Ururgroßvater – hatte viele Hektar Ackerland und angeblich sogar eine Zuckerfabrik oder Molkerei besessen. Wenn er’s geschafft hat, sagte Lenas Vater, warum sollte ich es nicht können? Die Geschichte entwickelt sich spiralförmig. Jetzt ist es Zeit, wieder zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Die Ukraine war immer schon ein Agrarland. Die Kommunisten wollten ein Industrieland daraus machen, aber das ist offensichtlich in die Hose gegangen. Alle Fabriken stehen still, es ist nicht zum Zuschauen. Die Erde ist alles, was uns geblieben ist. Und es ist nicht einfach nur Erde, sondern Schwarzerde! Nicht grundlos haben die Deutschen sie waggonweise mitgenommen. Die waren ja nicht blöd. In unserer Erde geht jede Saat auf. Im 47er-Jahr, als die Hungersnot groß war, hatten die Leute nichts zum Säen und haben Kartoffelschalen in den Boden geackert. Und was glaubst du? Da sind Kartoffeln aufgegangen, enorme Brocken, so was hat die Welt noch nicht gesehen. So groß wie Wassermelonen!
    So sprach Lenas Vater, während er auf dem Balkon saß und gemütlich sein Bier trank. Lenas Mutter schluckte währenddessen in der Küche Baldriantabletten. Die waren damals übrigens spottbillig – das sind sie heute noch.
    »Was meinst du dazu?«, fragte Lenas Vater.
    »Ich weiß nur, dass etwas passieren muss«, antwortete Lena ernst.
    »So isses! Kluges Köpfchen!«
    Lenas Vater hatte sich immer einen Sohn gewünscht, wurde aber vom Pech verfolgt, denn es kam nur Lena zur Welt. Er versuchte, sie wie einen richtigen Mann zu erziehen, und war dabei teilweise auch erfolgreich.
    »Du hast dich ja nicht einmal als Verlader halten können!«, rief Lenas Mutter aus der Küche herüber.
    »Was hätte ich dort halten sollen?! Mein Lebensziel war es eben nicht, moldawische Tomaten zu verladen!«
    »Bist dir wohl zu gut!«
    »Wirst schon noch sehen, wie gut ich bin!«
    »Wir können uns gerade irgendwie über Wasser halten, und du palaverst von Großgrundbesitz! Das Kind geht bald studieren, und es ist kein Geld da!«
    »Ich hab’s seinerzeit auch ohne Hilfe geschafft, und sie wird es genauso können. Sie ist intelligent, sie wird das schon meistern.«
    Alle aus Lenas alter Klasse wussten längst, was sie nach der Schule machen wollten. Die einen gingen nach Charkiw, um Polizist zu werden und Menschen auszurauben, die anderen schrieben sich für Medizin ein, um Leute umzubringen. Eine hatte ein Musikstudium begonnen, sie war wirklich begabt. Viele inskribierten Wirtschaft, um nicht vorhandenes Geld zu zählen. Einer ging in die Politik, obwohl er ein Idiot war, dafür sah er gut aus. Das Wichtigste in der Politik ist

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