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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Reihenfolge hören wollten. Lena beklagte sich später darüber, dass es von diesen Hetmans einfach zu viele gab, und manchmal hätten mehrere sogar zeitgleich regiert. Es war einfach unmöglich, sich alle zu merken!
    Dem Professor, bei dem sie die mündliche Aufnahmeprüfung ablegte, sagte sie klipp und klar: »Warum muss ich diese Hetmans kennen, wenn sie sowieso alles verbockt haben?«
    Der Professor erwiderte: »Kindchen, das ist das falsche Studium für dich.«
    »Wieso das falsche?!«, entsetzte sich Lena. »Ich will Philosophie studieren, nicht Geschichte! Wozu braucht ein Philosoph die Hetmans?! Und überhaupt ist die ganze Geschichte sowieso das reinste Geschwurbel!«
    Sie war so in Fahrt gekommen, dass der Professor die Krankenschwester rief und Lena eine Beruhigungsspritze bekam. Da begriff sie, dass sie die Philosophenkarriere aufgeben musste. Tags darauf ging sie zur Aufnahmeprüfung für Physik.
    Mit der Physik hätte alles glattgehen sollen, denn im Gegensatz zu Philosophie war hier alles viel eindeutiger, nach Formeln geordnet und frei von Geschwurbel. Doch dann vergaloppierte Lena sich. Ihre Prüfungsfrage lautete: »Lichtgeschwindigkeit und Wahrscheinlichkeitstheorie«. Lena beherrschte und mochte die Themen, antwortete schnell und klar, und der Physikprofessor zwirbelte wortlos an seinem Schnurrbart und nickte zufrieden. Zum Schluss wollte Lena mehr erzählen, um zu zeigen, dass sie nicht nur auswendig lernen, sondern auch selbstständig denken konnte. Sie führte aus:
    »Wissen Sie, Herr Professor, ich glaube, die Lichtgeschwindigkeit ist gar keine Grundkonstante und auch nicht die höchste Geschwindigkeit, die es geben kann.«
    Der Professor erwachte aus seiner Apathie und reckte den Hals:
    »Wirklich?«
    »Ja, doch. Ich glaube, Einstein hat sich bei seinen Berechnungen ein bisschen vertan, da hat er sich überhoben. So mickrige dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde. Überlegen Sie mal, es gibt doch eine viel höhere Geschwindigkeit?«
    »Im Ernst?«
    »Ja sicher! Einstein hat objektiv gedacht und nach der höchsten Geschwindigkeit in unserer Welt gesucht. Da hat er natürlich recht. In der objektiven Welt hat Licht die höchste Geschwindigkeit. Sie existiert außerhalb des menschlichen Bewusstseins. Doch Einstein hat den Menschen nicht berücksichtigt. Im Menschen gibt es etwas, das noch schneller ist.«
    Der Professor sprang von seinem Stuhl auf:
    »Und was soll das sein?«
    »Die Gedanken! Die menschlichen Gedanken sind schneller!«
    Da lachte der Professor. Er hatte solcherlei Theorien schon oft von seinen Studenten gehört. Lena fuhr fort:
    »Was gibt’s da zu lachen? Die Gedanken sind unendlich schnell! Schauen Sie nur: tadaa, ich bin in Charkiw! Wirklich! Tadaa, und schon bin ich auf dem Mond! Tadaa, und schon bin ich im Sternbild Andromeda! Und das ist sage und schreibe zwei Millionen Lichtjahre von hier entfernt!«
    »Na ja, Sie denken nur, dass Sie im Sternbild Andromeda sind …«
    »Richtig! Ich denke! Also bin ich dort!«
    »Kindchen«, sagte der Professor zu Lena und wischte sich mit einem altmodischen bestickten Stofftaschentuch die Tränen aus den Augen, »Sie bewerben sich für das falsche Studium. Philosophie wäre eher was für Sie …«
    Nach diesen Worten bekam Lena einen Nervenzusammenbruch.
    »Bei Philosophie wollten sie mich ja nicht haben! Angeblich ist es das falsche Studium für mich! Wollt ihr mich alle hier verarschen?!«
    Die Schwester von der Erste-Hilfe-Station gab Lena wieder eine Beruhigungsspritze. Die Krankenschwester war überhaupt ein nettes Mädel. Lena sah sie später noch ein paarmal, und zwar bei jeder ihrer Aufnahmeprüfungen. Die Schwester schrieb Lenas Prüfungsplan ab und wartete mit allen Utensilien im Flur, bis sie gerufen wurde.
    Lena rasselte durch alle Prüfungen und bekam keinen Studienplatz.
    Währenddessen mähte ihr Vater seinen Buchweizen.
    Er hatte sich einen feinen Tag ausgesucht. Einen Tag, an dem es nicht zu heiß war und die Stängel nicht zu trocken; das Korn würde beim Mähen nicht zu Boden fallen. Am Steuer der Mähmaschine saß der Besitzer, ein alter Mann, der bereit war, gratis zu arbeiten, nur um dabei zu sein, wenn die ukrainische Landwirtschaft wieder in Schwung käme. Und aus Dankbarkeit für die reparierte Maschine. Der Mann mähte, während Lenas Vater stolz hinter der Maschine herging und überlegte, ob er bei den nächsten Dorfratswahlen als Vorsitzender kandidieren sollte. So ging das ungefähr eine halbe Stunde

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