Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Mann!«
Der Jamaikaner war tatsächlich schwarz. So richtig schwarz. Er hatte lange schwarze Finger und zarte rosafarbene Handinnenflächen. Seine Nase war breit und beherrschte das Gesicht. Seine Haare sahen aus wie dünne geringelte Schlangen. Er sagte »Dreads« dazu.
Der Jamaikaner sprach ein lückenhaftes Ukrainisch und Lena ein lückenhaftes Englisch. Genauso lückenhaft konnten sie sich auch verständigen.
Lena sagte:
»Du bist wirklich so black , dass man fast Angst bekommt. Ist das deine Tarnung in der Nacht?«
Der Jamaikaner – er hieß Ishion oder so ähnlich – lächelte. »Wieso bist du überhaupt hergekommen?«
» To study ukrainisch Sprache und Literature .«
»Ich understand schon, aber why? «
»Es ist interessant.«
Ishion erzählte Lena viel über Jamaika. Die Hälfte konnte sie verstehen, die andere Hälfte reimte sie sich zusammen.
»Ich bin auf Jamaika geboren«, sagte Ishion. »Meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern waren Fischer. Aber eigentlich kommen wir aus Afrika.«
»Das ist alles schön und gut, aber ich frage mich trotzdem die ganze Zeit: Warum kommst du ausgerechnet zu uns angelatscht?«
Ishion kannte das Wort angelatscht nicht, er kannte auch viele andere Dinge und Begriffe nicht, und Lena freute sich, dass es jemanden gab, der noch weniger verstand als sie selbst.
Auf Jamaika, sagte Ishion, sind alle Männer Weiberhelden. Aber sie nützen die Frauen nicht nur aus, sondern sie dienen ihnen auch. Die Frauen vergöttern die jamaikanischen Männer und sind selbst dann glücklich, wenn sie von ihnen verlassen werden. Jamaikaner machen Jamaikanerinnen glücklich. Außerdem haben bei uns alle Pistolen, und wir schießen auch manchmal aufeinander. Alle träumen davon, in die USA auszuwandern, und manchen gelingt es. Außerdem singen auf Jamaika alle die Songs von Bob Marley, und die Kinder Bob Marleys, es gibt ungefähr fünfzehn, von verschiedenen Müttern, gelten inoffiziell als die Prinzen der Insel.
Im Gegenzug und aus Dankbarkeit erzählte Lena Ishion die Geschichte der Ukraine, so gut sie konnte, und zeigte ihm die Sehenswürdigkeiten der Stadt: das Schloss eines polnischen Fürsten, in dem jetzt eine Kaserne für Rekruten untergebracht war, und die »Goldfisch«-Bar, in der das billigste Bier der Stadt ausgeschenkt wurde.
Sie saßen oft zusammen im »Goldfisch«. Lena trank Bier, während Ishion großspurig Cocktails bestellte (den Ausdruck »großspurig« kannte er selbstverständlich auch nicht). Die Kellnerinnen konnten Ishion nicht leiden und erklärten ihm jedes Mal:
»Wir haben keine Cocktails! Bei uns gibt’s nur Bier und Wodka!«
»Mischt Bier und Wodka, und ihr habt einen Cocktail«, gab Ishion in perfektem Ukrainisch zurück, doch die Kellnerin flehte Lena trotzdem mit Tränen in den Augen an:
»Erklären Sie ihm bitte, dass wir das nicht machen!«
»Bringen Sie ihm eine Bloody Mary«, schlug Lena vor.
»Ist das Tomatensaft mit Wodka?«, fragte die Kellnerin und hüpfte vor Freude, »Augenblick! Kommt sofort!«
Lena beschützte Ishion vor den Ukrainern und die Ukrainer vor Ishion. Damit waren alle zufrieden. Die Besitzer des »Goldfisch« freuten sich insgeheim, dass sie einen ausländischen Stammgast hatten, und drückten wegen seiner Hautfarbe ein Auge zu. Mit der Zeit rankten sich Legenden um die Bar. Zuletzt hieß es, Bob Marley sei hier höchstpersönlich zu Gast gewesen. Dementsprechend heißt die Bar mittlerweile Bei Bob und schenkt die teuersten Cocktails der ganzen Stadt aus. An den Wänden hängen Schilder mit dem Motto »Mixe Hochprozentiges und spür die Hitze«, original unterzeichnet von »Bob Marley«, obwohl Bob Marley derartige »Lyrics« weder geschrieben noch gesungen hat.
Aber dann bekam Ishion unvorhergesehene Probleme mit Lenas ehemaligen Compañeros aus dem Untergrund. Diese Entwicklung zeichnete sich ab, als Darwin eines Tages mit seinen Lakaien in der Bar auftauchte und Lena anfuhr:
»Was sitzt ihr hier herum?«
»Stört’s dich vielleicht?«, motzte Lena zurück.
»Nein, wieso?«, antwortete Darwin und trollte sich.
Stundenlang beobachtete er die beiden von der Theke aus, wo er Mineralwasser trank.
» Don’t worry «, tröstete Ishion Lena, »ich bin Racism gewohnt, geht mir an mein Arsch vorbei.«
»Hauptsache, es geht nicht ins Auge.«
»Von Arsch in Auge? Geht das?«
»Manchmal schon.«
Die »Bewegung des Widerstandes« hatte eine Richtlinie erlassen, welche jegliche Beziehungen zwischen Ausländern und
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