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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Ukrainerinnen untersagte. Sie galt eigentlich nur für Ishion und Lena, denn Ishion war der einzige Ausländer in der ganzen Stadt und Lena die Einzige, die überhaupt mit ihm redete.
    Einige Male wurde Ishion durch dunkle Gassen verfolgt, kam aber jedes Mal ungeschoren davon. Ishion konnte schnell laufen und erklärte, auf Jamaika seien alle gute Läufer, denn es gebe keine öffentlichen Verkehrsmittel.
    Dann erhielt Lena eine »offizielle« Einladung zur Versammlung der Organisation, weil die geplante Diskussion »in direktem Zusammenhang mit ihrem ungebührlichen und gotteslästerlichen Verhalten« stehen würde.
    Dazu schrieb Lena in ihr Tagebuch:
    »Es war interessant, den Idioten zuzuhören. Ich hab’s ihnen gleich von vornherein gesagt:
    ›Ihr seid hier alle Idioten!‹
    Der Zwerg hielt eine kurze Ansprache und fuchtelte dabei wie immer mit den Händen. Ich musste mich auf einen Stuhl setzen, der in der Mitte des Zimmers stand.
    ›Hier geht’s ja zu wie bei Gericht!‹, sagte ich lachend.
    ›Gibt es denn in der ganzen Stadt keinen einzigen Ukrainer, mit dem du befreundet sein kannst?‹, fragte der Vorsitzende mit Grabesmine.
    ›Offenbar nicht. Schaut euch einmal an, kann man mit euch etwa befreundet sein? Ihr seid Jungkommunisten und Faschisten in einem!‹
    Darwin sprang auf wie von der Tarantel gestochen.
    ›Ruhig Blut!‹, befahl der geistige Anführer, ›wir haben uns hier versammelt, um ein Erziehungsgespräch zu führen.‹
    ›Und wenn ihr mich mit Worten nicht überzeugen könnt, werdet ihr die Fäuste sprechen lassen?‹
    ›Überleg dir mal, welche Farbe eure Babyaffen haben werden!‹, rief Darwin.
    ›Darwin‹, sagte ich, ›was glaubst du, warum man dich Darwin nennt? Es gibt auch hellhäutige Affen.‹
    ›Wie ich sehe, hat das Erziehungsgespräch nicht funktioniert‹, resümierte der Zwerg.
    Die Organisationsmitglieder, ungefähr zwanzig an der Zahl, erhoben sich wie auf Befehl und begannen, die Gürtel aus ihren Hosen rauszuziehen.
    An dieser Stelle muss ich zugeben, dass ich in Wirklichkeit zu keiner Versammlung gegangen bin, sondern mir unser Gespräch einfach nur bildhaft vorgestellt habe.
    Ich schlage mich nicht gern und mag es auch nicht, geschlagen zu werden, und eines von beiden wäre garantiert passiert, wenn ich die Einladung angenommen hätte und zur Versammlung gegangen wäre. Nein, natürlich bin ich nirgendwo hingegangen. Untergrundkämpfer muss man mit ihren eigenen Waffen schlagen.«
    Obwohl das Haus, in dem die »Bewegung des Widerstandes« ein Zimmer gemietet hatte, auf eine hundertjährige Geschichte zurückblickte – der berühmte Iwan Franko soll dort einmal seine Gedichte vorgetragen haben –, hatte es sich in Lenas Augen längst diskreditiert. In den anderen Räumen tagten Organisationen, die um nichts besser waren. Sie hießen »Freiheit oder Tod«, »Rot-Schwarze Fahne« oder »Junge Nation«.
    Alles klappte hervorragend. In der Nacht schlug Lena das Fenster der »Bewegung des Widerstandes« ein, warf die Flasche mit dem Molotow-Cocktail, die sie für bessere Zeiten aufgehoben hatte, hinein, und das Zimmer ging sofort in Flammen auf. Alles brannte: die Stühle, der Tisch und das Portrait von Stepan Bandera. Der tat Lena leid, denn er war hier eigentlich fehl am Platz, aber manchmal muss man eben kleinere Überzeugungen für größere opfern.
    Die Polizei, die mit den Bränden in der Stadt restlos überfordert war, konnte keine Verantwortlichen für den Anschlag ausfindig machen und verhaftete stattdessen die Betroffenen. Das passierte oft, doch in diesem Fall machte Lena sich nicht allzu viel aus der Ungerechtigkeit der Welt. Der geistige Anführer verbrachte fünfzehn Tage in der Untersuchungszelle und verriet sämtliche seiner Mitstreiter. Lena zeigte er ebenfalls an, aber die Polizisten waren offenbar zu faul, um dem nachzugehen, und begnügten sich mit ihm und seinem Stellvertreter Darwin. Beide bekamen eine einjährige Bewährungsstrafe und wurden von der Universität geworfen.
    Später stand Darwin noch ein paarmal vor Lenas Wohnheim, weinte wie ein kleines Kind, drohte hysterisch mit den Fäusten und brüllte:
    »Das hast du mir alles eingebrockt!«
    »Keine Ahnung, was du meinst«, spöttelte Lena.
    »Wegen dir und deinem Negerfreund bin ich von der Uni geflogen!«
    »Wie kommst du darauf, dass du anderen vorschreiben kannst, was sie tun sollen? Hältst du dich für einen großen Herrn?«
    »Ja, ich bin ein Herr. Ich bin Herr in meinem eigenen

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