Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
Vom Netzwerk:
Land!«
    Diese Aussage brachte Lena völlig aus dem Konzept. Teilweise war sie vielleicht richtig, gleichzeitig aber auch unlogisch. Denn wie kann ein Land einen Herrn haben?, fragte sich Lena. Kann man sich das Land in die Hosentasche stecken und behaupten: Das gehört mir und nicht euch? Eben. Das geht genauso wenig mit der Luft, mit einem Baum, mit einem Fluss oder mit einem Berg. Wozu also alle Kraft darauf verwenden, um etwas besitzen zu wollen, das man gar nicht besitzen kann, wenn man bedenkt, dass dem Menschen nicht einmal sein eigenes Leben gehört und er es wieder abgeben muss, wenn die Zeit kommt.
    Später sollte Lena festhalten: »Wenn jemand sagt: Ich bin Herr in meinem eigenen Land, dann weiß ich nicht, wie ich reagieren soll, da bin ich einfach nur ratlos. Aber damals habe ich Darwin geantwortet: ›Herr ist derjenige, der schlauer ist. Und in diesem Fall bin das ich!‹«
    Bald darauf verkündete der Jamaikaner, dass die Ukraine ihn langweile. Er sehne sich nach etwas Exotischerem. Also ging er nach Weißrussland. Lena wünschte ihm eine gute Fahrt.

7    Wie sie suchte und nicht fand
    Dann begannen ihre Albträume.
    Kaum schloss Lena die Augen, schon waren sie da. »Meine Freunde der Finsternis«, sagte Lena, weil sie keine Freunde des Lichts hatte. Einsame Menschen sind voller Finsternis und leicht zu erschrecken.
    Lenas Albträume begannen immer gleich: Im Wohnheimzimmer ist außer Wassylyna und ihr noch eine dritte Person. Diese versteckt sich. Doch Lena spürt ihre geheimnisvolle Anwesenheit. Sie ist gefährlich, weil sie jede beliebige Form annehmen kann. Zum Beispiel die von Wassylyna.
    Lena denkt: Das ist Wassylyna, ganz ruhig, keine Angst, Wassylyna steht mit einem Topf Nudeln am Fenster. Schon fast von ihrer Gegenwart überzeugt, fällt Lena plötzlich ein, dass Wassylyna gerade auf die Toilette hinausgegangen ist und deswegen jetzt nicht am Fenster stehen kann.
    Die echte Wassylyna kommt fröhlich und beschwingt ins Zimmer zurück und erzählt Lena zum Beispiel, dass sie am nächsten Morgen bis acht schlafen können, weil der Professor für Bewegungsspieltheorie im Krankenhaus liegt. Lena dreht den Kopf in ihre Richtung und bleibt vor Schreck wie angewurzelt stehen, doch im nächsten Augenblick ist niemand mehr am Fenster.
    Lena schaut auf ihre Hände und sieht, wie ihre Finger einer nach dem anderen abfallen wie Herbstlaub, und die echte Wassylyna – wobei ungewiss bleibt, ob sie nun wirklich echt ist – flüstert: »Lena, du solltest weniger rauchen, vom Rauchen fallen die Finger ab, das weißt du doch.«
    Diese Albträume jagten Lena jedes Mal eine Heidenangst ein. Um genau zu sein, nicht die Träume selbst, sondern die Tatsache, dass sie das Symptom einer schlimmen Geisteskrankheit sein könnten. Um ihren Verstand machte sich Lena die allermeisten Sorgen, denn der Verstand war ihr einziger Besitz. Sie hatte Angst, verrückt zu werden. Große Angst. Lena fürchtete sich, weil man über das Verrücktwerden sagt, es komme schleichend, verdränge allmählich, millimeterweise, die Realität und der betroffene Mensch könne diesen Prozess nicht beeinflussen. Zwischen Wahnsinn und geistiger Gesundheit gibt es keine scharfe Grenze, so wie es keine Regengrenze gibt. Man kann sich nicht hinstellen und sagen: Rechts von mir regnet es und links nicht, oder: Bis hierhin geht die Gesundheit und da beginnt der Wahnsinn.
    Lena trug ihre Albträume zu einer bekannten Ärztin.
    Diese Ärztin hieß Olha Iwaniwna und war eigentlich auf Magen-Darm-Erkrankungen bei Kindern spezialisiert. Aber Ärzte sind Ärzte, man kann sich immer darauf verlassen, dass sie einem irgendwelche Tabletten verschreiben. Olha Iwaniwna war eine Freundin von Lenas Mutter und arbeitete in der Kinderpoliklinik. Ihr Kleidungsstil wirkte ein wenig nuttenhaft: Minirock, schwarze Spitzenstrumpfhose mit Glitzer und Stiefel mit schwindelerregenden Bleistiftabsätzen. Und da Olha Iwaniwna ohnehin groß war, musste sie, wenn sie diese Stiefel trug, immer den Kopf einziehen, um durch die Tür zu kommen.
    Sie mochte es, groß zu sein.
    So spüre man weniger, wie der Boden unter den Füßen stinkt, sagte sie.
    Lena kam ins Behandlungszimmer und legte sich auf die Kinderliege neben dem Schreibtisch. Darauf behandelte Olha Iwaniwna ihre kleinen Patienten.
    »Lena, was ist denn jetzt schon wieder?!« In der Poliklinik trug Olha Iwaniwna einen weißen Kittel, der zwei Zentimeter kürzer als ihr Minirock war. Vielleicht hoffte sie, doch noch

Weitere Kostenlose Bücher