Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Sie!«
»Wie Sie meinen«, sagte der Mann und legte auf.
Danach brauchte Lena drei Tage, um wieder zu sich zu kommen. Sie schäumte: Diese Frechheit muss man einmal besitzen! Da macht man sich die Mühe und gründet ein eigenes Business, und schon kommt einer und will an mir verdienen! Und zwar nicht nur ein paar Kopeken, sondern ganze hundert Hrywnja! Damit komme ich einen ganzen Monat lang aus!
Am dritten Tag wurde es Lena zu viel und sie rief den anonymen Anrufer zurück. Er ging gleich dran.
Lena machte es kurz:
»Einverstanden. Ich habe nur achtzig.«
»Passt. Kommen Sie zu mir ins Krankenhaus, ich werde Ihnen alles erzählen.«
»Was machen Sie im Krankenhaus?«
»Nichts Ernstes, die Leber spinnt ein bisschen. Aber ich kann in den Park raus, hier gibt’s einen Park beim Krankenhaus. Treffen wir uns dort, morgen um zwölf. Bauarbeiterstraße 12.«
Lena kannte diese Straße noch aus ihrer Zeit als Untergrundkämpferin. Sie kannte auch das Haus mit der Nummer 12. Das war die regionale Drogenfürsorgestelle.
»Ich komme sicher nicht! Scheißjunkie!«
Der Mann beruhigte Lena:
»Ich bin kein Junkie. Ich habe nur ein bisschen zu viel getrunken. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Bezahlung nach erbrachter Leistung. Ich hab’s nicht nötig zu lügen.«
In der regionalen Drogenfürsorgestelle heilten die seelischen Wunden der von den Ereignissen der 90er-Jahre gebrochenen Männer aus. Hier war es ruhig und beschaulich. Zur Einrichtung gehörte ein großer, alter Park, der von einer Mauer umgeben war. Das Gebäude war ursprünglich im Besitz einer reichen jüdischen Familie gewesen. Alkoholiker und Fans von allerlei Rauschzuständen fühlten sich hier gut aufgehoben.
Lenas Vater sagte oft: Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst. Manchmal sagte er auch: Früher oder später landen wir alle dort. Und damit meinte er nicht etwa den Friedhof, sondern die Drogenfürsorgestelle. Viele seiner Bekannten hatten diese weiß getünchten Mauern schon von innen gesehen. Die Behandlung der Alkoholsucht führte nur in den seltensten Fällen zum Erfolg, aber so ein bisschen ausspannen – da hatte niemand was dagegen. Alle versuchten dort unterzukommen. Deshalb konnte man nur mit Beziehungen stationär aufgenommen werden.
Es war ein sonniger Sommermorgen. Am Eingang wurde Lena von einem wohlgenährten Wachmann angehalten:
»Zu wem?«
»Ein Verwandter liegt hier zur … Erholung.«
»Das ist keine Erholungsanstalt!«
»Entschuldigung«, sagte Lena, »ich meine Behandlung .« »Komm rein. Kein Alkohol! Und wehe, ich erwische dich!«
Im Park schlurften die Patienten umher, jeder für sich, den Blick zu Boden gerichtet, die Gesichter schwarz vor Kummer. Auf einer kaputten Parkbank saß Lenas langjähriger Bekannter, der ehemalige Literaturprofessor Teofil Karnickel.
»Herr Karnickel???«, rief Lena verblüfft. »Was machen Sie hier?!«
Der Professor blickte sie mit leeren Augen an.
»Das hab ich mir doch gedacht, dass nur du so eine hirnverbrannte Anzeige aufgeben konntest. Hast du das Geld dabei?«
»Sie waren das also?« Lena setzte sich zu ihm auf die Bank, die fast umkippte.
»Warum musst du schon wieder alles kaputt machen, du Opfer des kommunistischen Terrors! Kannst du dich nicht normal hinsetzen?!«
»Aber das gibt’s doch nicht!« Lena konnte sich nicht beruhigen. »Was für ein Zufall!«
Teofil Karnickel versteckte seine zittrigen Hände in den Taschen seines alten schwarzen Mantels. Er war noch mehr abgemagert und sah wie ein Gespenst aus.
»Wie sind Sie hier gelandet, Herr Karnickel?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an. Hast du was zu trinken mit?«
»Das ist hier verboten.«
Karnickel spuckte schwarzen Speichel ins grüne Gras und zündete sich eine Zigarette an.
»Also, was ist passiert?«
»Ohne Geld sage ich nichts.«
»Hier ist das Geld.« Lena ließ ihn die zerknitterten Geldscheine in ihrer abgewetzten Geldbörse sehen. »Ich gebe es Ihnen, wenn wir fertig sind.«
»Wieso sollte ich dir trauen? Du hast doch kein Gewissen, du weißt ja nicht einmal, was das ist. Eine Hochstaplerin sondergleichen. Wunder will sie vollbringen, dass ich nicht lache!«
Sie blieben eine Weile schweigend nebeneinander sitzen. Schließlich reichte Lena dem Professor ihre achtzig Hrywnja. Er nahm sie ungeniert an. Dabei deutete er mit dem Kopf in Richtung der anderen Patienten:
»Kein Einziger von denen hat Niveau, alles Proleten hier. Keiner da, mit dem man auch nur ein paar Worte wechseln
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