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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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könnte.«
    »Ja, schon gut, also, was haben Sie gesehen?«, trieb Lena ihn an.
    Karnickel sagte bedeutungsschwer:
    »Ein Wunder hab ich gesehen.«
    »Das sagten Sie bereits.«
    »Red mir nicht drein! Du sollst still sitzen und zuhören! Vor zwei Tagen bin ich am Abend nach der Arbeit nach Hause gekommen – ich verkaufe jetzt Bücher auf dem Markt – und habe mich wegen der Haustyrannen in meinem Zimmer eingesperrt …«
    Teofil Karnickel drückte sich immer sehr brutal aus und bezeichnete seine – garantiert unglückliche – Ehefrau und die zwei Söhne als Tyrannen.
    An diesem Abend schlich er in sein Zimmer, welches er absperren konnte. Seine Frau sah gerade im Wohnzimmer fern und schlang ihren abendlichen Lieblingssnack hinunter: eine halbe Stange Brot mit einem dicken Stück Kochwurst und einem Batzen Mayonnaise. Karnickel setzte sich an seinen Schreibtisch, der mit Büchern und Zetteln vollgeräumt war. Er holte aus der untersten Schublade eine Flasche Wodka heraus, die er für schlechte Zeiten weggelegt hatte, und nahm einen ersten Schluck. Der Wodka entpuppte sich als verdünnter Spiritus und drohte – ohne Imbiss als Unterlage – den Rachen zu verätzen. Also schlich Karnickel von seinem Zimmer in die Küche, um sich saure Gurken zu holen. Dem Kühlschrank entnahm er ein Dreiliterglas, welches die Eltern seiner Frau vom Dorf geschickt hatten, und steckte die Hand hinein. Als er die erste Gurke ertastete, rauschte seine Frau wie eine Furie in die Küche. Der Professor blickte sie erschrocken an. Sein Unterarm steckte bis zum Ellenbogen im Gurkenglas.
    »Was machst du da?«, fauchte sie einschüchternd.
    »Ich will was essen, siehst du doch!«
    »Von Gurken wirst du nicht satt.«
    »Doch.«
    »Lass die Gurken!«
    »Steht dein Name drauf?«
    Ohne lange zu fackeln, stürzte sich die Frau auf Karnickel, um ihm das Glas aus den zittrigen Händen zu entreißen.
    »Lass ab, Weib! Was tust du?!«
    »Du elender Säufer!«, kreischte die Frau. »Lass die Gurken!«
    Karnickel sank erschöpft auf einen Hocker nieder. Von seiner Hand tropfte Gurkenwasser auf den Fußboden. Die Frau stand vor ihm, das gerettete Glas in den Händen.
    »Schau dich an, du erbärmlicher Säufer! Du trinkst doch jeden Tag in deinem Zimmer! Hast du gedacht, ich bekomme das nicht mit? Was ist aus dir geworden!«
    »Schau du dich lieber selbst an«, antwortete Karnickel in ruhigem Ton.
    »Ich? Mich? Was willst du damit sagen?«
    »Was ich sagen wollte, hab ich schon gesagt.«
    Die Frau stellte das Gurkenglas wortlos auf den Tisch. Ihre Augen füllten sich schnell mit Tränen. Karnickel hatte diesen Vorgang Millionen Male beobachtet, er empfand schon lange kein Mitleid mehr.
    »Was willst du mir sagen? Dass ich dick bin?«
    »Ist doch so! Du sitzt den ganzen Tag auf der Couch und frisst Wurst mit Mayonnaise.«
    »Wieso den ganzen Tag?« Karnickels Frau weinte. Karnickel selbst war gefasst.
    »Ich tu alles, damit es dir gut geht. Ich putze, wasche, habe dir zwei Kinder geboren …«
    »Die Kinder sind genau solche Tyrannen wie du. Faul und hirnlos …«
    »Wie kannst du so etwas sagen?!«
    »Ich sage nur, was ist.«
    Die Frau murmelte: »Ich hasse, ich hasse dich.« Karnickel schnappte sich seinen schwarzen Mantel und sagte beim Hinausgehen:
    »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, diese Welt ist nur eine Scheinwelt. Irgendwo da draußen existiert die richtige Welt. Sie könnte sogar ein Teil dieser Welt sein, aber wir sehen sie nicht. Die wahre Welt zeigt sich uns nur manchmal. Wenn sie will und falls sie es will.«
    »Und dir ist es gelungen, diese wahre Welt zu sehen?! Im Rausch?!«
    »Es wird mir noch gelingen.«
    Er ging auf die Straße hinaus. Es war bereits weit nach Mitternacht. Karnickel ging in Richtung Bahnhof. Erstens hatte die Bahnhofskneipe rund um die Uhr geöffnet. Hier versammelten sich nachts die Durstigen. Man konnte trinken und plaudern. Und zweitens hatte er beschlossen, sich das Leben zu nehmen.
    »Kennst du die Geschichte vom Kater Salamacha?«, fragte Karnickel Lena.
    Sie musste verneinen.
    »Der Kater Salamacha saß sieben Jahre lang im siebten Stock auf dem Balkon und schaute hinunter. Sieben Jahre lang dachte er nach. Im achten Jahr wagte er endlich den Sprung. Das hat sich in meinem Haus zugetragen. Ein echter Held. Damals meinten alle: Der hat sich umgebracht. Anscheinend können auch Katzen Selbstmord begehen. Sieben Jahre lang hat er sich auf den Tod vorbereitet, und als er spürte, dass seine Zeit gekommen war,

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