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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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großen Lettern: »Mutter Gottes rettet Frau vor Enkel«. Darunter befand sich der folgende Artikel:
    »Frau Prokopowytsch aus dem Bezirk Koropezkij behauptet, die Heilige Mutter Gottes gesehen zu haben. Die Mutter Gottes sei ihr erschienen, als ihr Enkel, der 25-jährige H., in stark alkoholisiertem Zustand mit einer Axt auf sie losging. Die Mutter Gottes sei aus dem Nichts aufgetaucht. Der 65-Jährigen zufolge soll sie ein gelbes Kopftuch mit rotem Blumenmuster getragen haben. Sie habe dem jungen Mann die Axt entrissen und diesen so laut angeschrien, dass er taub geworden sei. Derzeit wird H. im psychiatrischen Krankenhaus behandelt, weshalb es nicht möglich ist, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Die zuständige Polizeistelle hat ein Verfahren wegen häuslicher Gewalt eingeleitet, wollte die wundersame Rettung der betroffenen Einwohnerin von Solotvin jedoch nicht kommentieren. Den Angaben der Behörden zufolge war H. seit einigen Jahren als besonders bösartig bekannt. Familienpsychologen schlagen Alarm, denn laut Statistik ist jede sechste Frau in der Region auf die eine oder andere Weise von häuslicher Gewalt betroffen. Derzeit sind weder die Strafverfolgungsbehörden noch soziale Einrichtungen in der Lage, die Situation zu ändern. Die Ortschaft ist inzwischen zu einer Pilgerstätte für Gläubige geworden.«
    »Fertig?«
    Lena war fertig. Ihre Oberlippe zuckte vor Aufregung. Lena kannte das erwähnte Dorf, dort hatten ihre Großeltern gelebt und sie kannte auch diese Frau, Shenja Prokopowytsch, die von allen ausgelacht wurde, und deren eigener Sohn sie mit Kohlenmonoxid vergiften wollte. Wie es aussah, hatte mittlerweile ihr Enkel die Sache in die Hand genommen. Kein Wunder.
    »So ein Zufall, das gibt es nicht«, murmelte Lena.
    Aus dem Gebüsch sprang ein großes rotes Eichhörnchen. Teofil Karnickel warf ihm eine Nuss zu. Das Eichhörnchen grapschte danach und verschwand flink im Unterholz.
    »Ich füttere sie oft«, sagte Karnickel und trottete, ohne sich von Lena zu verabschieden, in seine Klause, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden.

    Lena fuhr mit dem Regionalzug zum Dorf der Großeltern. Sie wollte die Augenzeugin persönlich sprechen.
    Später schrieb sie in ihren Tagebüchern, dass sie vor Neugier fast geplatzt wäre. Sie überlegte: Vielleicht ist dieses fliegende Wesen, diese Alte mit dem Kopftuch, ja wirklich die Mutter Gottes. Obwohl Lena an nichts Höheres glaubte, musste sie zugeben, dass eine geringe Wahrscheinlichkeit für dessen Existenz trotzdem bestand. Außerdem war Fliegen für die Mutter Gottes kein Problem. Im Gegensatz zum Menschen benötigte sie keine sechs Kubikmeter Lungenvolumen. Aber es bestand auch die vage Möglichkeit, dass dieses Wesen in Wirklichkeit ein Mensch war, der fliegen konnte. Falls dem so war, musste Lena ihn um jeden Preis kennenlernen. Das würde vieles ändern, sagte sie.
    Lena hatte das Dorf seit dem Tod der Großeltern nicht mehr besucht. Sie waren beide im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben, einer nach dem anderen. Das Haus war versperrt, die Hühner geschlachtet und die Schweine verkauft worden.
    Die Kirche, welche die Polen einst zu revitalisieren gedachten, hatte sich wieder in ein Denkmal für Toilettenkunst verwandelt und war genau wie früher: verwaist und geplündert. Der steinerne heilige Antonius streckte die Hände klagend zum Himmel, als glaubte er immer noch, dass dort jemand sei.
    Lena erinnerte sich, wo Shenja Prokopowytsch wohnte, und war überzeugt, dass Shenja sie nicht erkennen würde. Sie behielt recht. Shenja saß in ihrem schäbigen, von Brennnesseln überwucherten Hof und schälte Kartoffeln.
    Lena ging hinein und grüßte. Ein kläffendes Hündchen, die Sorte, bei der man nicht damit rechnet, dass sie zubeißt, die aber aus lauter Angst doch immer beißt, sprang Lena vor die Füße. Shenja Prokopowytsch legte die Kartoffeln weg.
    »Struppi, bei Fuß!«, rief sie ihrem mickrigen Beschützer zu, und das Hündchen gehorchte kleinlaut. Na, logisch – »Struppi«, dachte Lena, wie sollte dieses Etwas auch sonst heißen?
    »Guten Tag«, sagte Lena und kam näher. »Entschuldigen Sie, dass ich so hereinplatze. Ich komme aus der Stadt und würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen …«
    Shenja Prokopowytsch musterte Lena von oben bis unten. Sie war genau wie ihr Hund Struppi, nur ein bisschen größer. Ein dürrer, fast durchsichtiger Körper, krumme Arme und Beine, als wäre sie gerade aus einem Gefangenenlager

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