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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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sprang er. Er machte einen Bauchfleck, die Straßenkehrer mussten ihn dann mit der Schaufel vom Asphalt kratzen. Aber weiter ist nichts passiert. Die Welt dreht sich auch ohne Salamacha. Jetzt sitzt ein neuer Kater auf demselben Balkon. Er denkt nach. Und so saß ich auch auf der Bank am Bahnhof und dachte nach. Ehrlich gesagt, habe ich Angst vor dem Tod. Wenn ich mir meinen Tod vorstelle, dann bin ich wie gelähmt und mir wird schwarz vor Augen. Mir graut. Andererseits platze ich vor Neugier, weil vielleicht dort drüben eine Überraschung auf mich wartet. Da macht man sich keine Hoffnungen und findet plötzlich völlige Glückseligkeit, einfach so, als Gnade Gottes. Und Gott sagt zu mir: Na ja, Teofil, das eine Mal lasse ich dir noch durchgehen, du bist zwar ein Taugenichts, aber was soll’s, geh mit Gott! Das könnte doch sein, oder? Wenn ich trinke, mindert das meine Angst. Aber damals, an diesem Sonntag, war die Furcht ganz weg. Ich habe beschlossen, dass die Zeit zu sterben gekommen ist und ich mich vor den Zug werfe. Mir reichte es.«
    Dann trank Karnickel noch seine Viertelliterflasche aus der Bahnhofskneipe aus – es wäre schade drum gewesen – und stellte sich auf die Gleise. Laut Fahrplan sollte der Zug in zehn Minuten durchfahren.
    »Ich habe mich gefühlt wie der besagte Kater Salamacha. Ich dachte: Soll ich jetzt beten oder nicht? Andererseits: Falls es einen Gott gibt, wird er mich auch ohne Gebet aufnehmen. Ich kann ja nicht einmal vernünftig beten, und ich will mich vor dem Tod nicht blamieren …
    Da sehe ich, wie der Zug kommt, näher kommt, er ist schon fast da, das Licht blendet mich … Ich habe die Augen zugemacht. Ich sage mir: Halt durch, Teofil, jetzt bricht er dir die Knochen, zerquetscht dir den Schädel, aber keine Angst, das geht schnell vorbei, wie eine Spritze. Und ich hatte immer schon Angst vor Spritzen.«
    Plötzlich war da ein Rascheln in der Luft. Teofil Karnickel öffnete die Augen und sah eine Frau mit einem Kopftuch.
    »Sie hing über mir in der Luft, schwebte einfach, ohne sich zu bewegen, ungefähr zwei Meter über dem Boden, und schaute mich vorwurfsvoll an. Alles ging blitzschnell. Wir sahen einander in die Augen und in diesem Moment überkam mich ein Gefühl von tiefer Scham. Ich dachte, was machst du denn für Sachen, Teofil, du schaffst es nicht einmal, dein nichtsnutziges Leben in Würde zu beenden. Ich wollte zur Seite springen, aber da merkte ich, dass ich es nicht mehr schaffe. Es war zu spät, der Zug berührte mich fast. Plötzlich stürzte die Alte mit dem Kopftuch – sie war eigentlich nicht alt, sah aber so aus – in meine Richtung, schnappte mich und riss mich hoch, und zwar mit einer Leichtigkeit, als wäre ich ein Sack voller Federn. Sie hielt mich in der Luft, bis der Zug weg war. Dann setzte sie mich auf die Bank wie eine Puppe und nahm neben mir Platz. Ich sagte: ›Danke‹, und sie antwortete: ›Keine Ursache.‹
    Ich fürchtete mich davor, sie anzusehen, ich zitterte am ganzen Körper. ›Wer bist du?‹, fragte ich. Sie antwortete mir nicht, aber nicht aus Arroganz, sondern weil sie es, wie ich spürte, selbst nicht wusste. Sie trug dieses altmodische Kopftuch. Meine Mutter hat immer so eines getragen, ein gelbes mit dunkelroten Blumen. Ich hakte nicht nach, ich hatte irgendwie keine Kraft mehr. Sie empfahl mir noch, mit dem Trinken aufzuhören und weiterzuleben. ›Mach dir keine Sorgen‹, meinte sie, ›alles wird gut.‹ Dann stieg sie in die Luft und flog davon. Ich hörte nur mehr ein Rascheln über mir.«
    Karnickel stieß einen so tiefen Seufzer aus, als wollte er seine Seele aushauchen.
    »Das glaube ich nicht«, sagte Lena, »ein Mensch kann nicht fliegen. Sein Brustkorb ist zu klein dafür. Vielleicht hatte die Frau Flügel?«
    »Nein, keine Flügel. Sie konnte einfach fliegen.«
    »Das glaube ich nicht. Herr Karnickel, Sie haben Halluzinationen aufgrund einer starken Alkoholvergiftung. So etwas gibt es, das weiß ich. Mein Opa hat beim Sterben auch Dämonen gesehen.«
    »Es ist egal, ob du mir glaubst«, sagte Karnickel forsch, »aber da gibt es noch etwas.«
    Er holte eine Zeitung aus seiner Tasche, und zwar die gleiche, in der Lena ihre Anzeige geschaltet hatte, und schob sie zu ihr hinüber.
    »Lies dir das mal durch.«
    »Was soll ich mit der Zeitung? Ich kann meine Anzeige auswendig aufsagen.«
    »Schau auf Seite zwei. Lies das, wenn du noch buchstabieren kannst. In der Kriminalchronik.«
    Lena blätterte um. Da stand in

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