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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Invaliditätspapiere! Die Gutachten der LKK und MSEK ! Das Reha-Programm! Die Pensionsbestätigung!«
    »Halt!«, rief Lena verwirrt. »Was heißt LKK und MSEK ?«
    Die Beamtin blickte Lena an, als käme sie von einem anderen Planeten. Es war nicht klar, ob sie loslachen oder ihre Gesprächspartnerin beschimpfen wollte.
    »Wurde Ihre Freundin ärztlich untersucht?«
    »Ja, sie kann nicht gehen.«
    »Und wo ist das ärztliche Attest, welches das bestätigt? Wo ist das Gutachten der Kommission, wo drinnensteht, dass sie eine Behinderung hat? Und wenn sie behindert ist, welche Invaliditätsstufe liegt vor?«
    »Sie ist behindert«, murmelte Lena, »glauben Sie mir. Seit zwei Jahren sitzt sie nur. Ich würde sie ja herbringen, aber sie ist mir zu schwer. Meine Freundin ist zwar klein, aber wiegt unglaublich viel!«
    »Ich brauche die Papiere von den Ärzten und der MSEK .«
    »Was heißt MSEK ?«, fragte Lena kläglich.
    »Das ist die Kommission, die die Invaliditätsstufe feststellt.«
    »Und wenn ich das MSEK habe, wird meine Freundin einen Rollstuhl bekommen?«
    »Laut Gesetz ja.«
    »Heißt das ja oder nein?«
    »Wir können uns nur im gesetzlich vorgegebenen Rahmen bewegen. Auf Wiedersehen, Verehrteste. Ich habe jetzt Mittagspause.«
    Lena fragte noch:
    »Und wie soll ich sie zu allen diesen Kommissionen schleppen? Vielleicht gibt es da irgendwelche Übergangsrollstühle? Ich würde ihn nach zwei bis drei Wochen wieder zurückbringen.«
    Aber die Frau hinter dem Schreibtisch war schon mit ihrem Kotelett beschäftigt.
    Wie Lena später erfuhr, hieß die Kommission mit der geheimnisvollen Abkürzung »Medizinisch-soziale Expertenkommission«, und sie tagte erst, wenn alle erforderlichen Dokumente vorlagen. Um sie zusammenzutragen, brauchte Lena mehrere Wochen. Da Hund nicht mobil war, konnte sich die Kommission nur an ihrem Wohnsitz versammeln.
    »Das ist machbar«, hatte man Lena informiert, »allerdings frühestens in einem halben Jahr. Wir führen eine Warteliste. Es würde schneller gehen, wenn sie selbst zu uns kommen könnte.«
    Also nahm Lena Hund huckepack und sie wankten los, um Hunds Invalidität bestätigen zu lassen. Das Büro lag ungünstigerweise im fünften Stock. Es gab keinen Aufzug, die einzige Möglichkeit, hinaufzukommen, war die Treppe. Während des Aufstiegs zum Gipfel entschuldigte Hund sich unentwegt, und Lena sagte:
    »Ist schon gut, Hund, du brauchst diesen Wisch eben. Damit kriegst du einen Rollstuhl, eine kleine Rente, kannst gratis öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Wir stehen das durch. Es passiert nichts, was man nicht aushalten kann.«
    Hier irrte Lena sich gewaltig.
    Die ersten drei Male schafften sie es nicht bis zur Kommission, weil die Amtsstunden endeten, bevor sie an der Reihe waren. Sie mussten also wieder über die Stufen hinunter- und eine Woche später wieder hinaufsteigen.
    »Kommen wir dann auch sicher dran?«, erkundigte sich Lena bei der Sekretärin.
    »Woher soll ich das wissen?!«, antwortete sie. »Früher oder später werden Sie schon drankommen. Sehen Sie die vielen Leute? Alle wollen behindert sein.«
    Eine Woche später wiederholte sich das Szenario. Die Sekretärin murmelte irgendwas vom Ende der Öffnungszeiten und vertröstete sie auf nächstes Mal.
    »Können Sie mir wenigstens sagen«, bat Lena, »ob es irgendeine andere Möglichkeit gibt, bei der Kommission vorzusprechen? Muss man vielleicht was bezahlen? Ich kann zahlen, sagen Sie mir nur, wie viel!«
    Die Sekretärin fauchte empört und ließ sie stehen. Vermutlich weil Lena ihr das Geld im Flur vor vielen Augenzeugen angeboten hatte.
    Als sie dann endlich aufgerufen wurden, konnte Lena es kaum fassen. Sie schleppte ihre Freundin in das Zimmer, in dem die Kommission tagte, und sagte:
    »Bei euch werden ja Gesunde behindert!«
    Zwei Frauen und zwei Männer saßen aufgereiht hinter einem langen Tisch. Sie sprachen im Flüsterton miteinander und schauten müde und gelangweilt auf die Deformationen dieser Welt.
    »Name«, sagte einer von ihnen.
    Hund stellte sich vor. Lena sagte zur Sicherheit:
    »Und ich heiße Lena.«
    Die Menschen hinter dem Schreibtisch öffneten Hunds Akte und lasen teilnahmslos drüber.
    »Ja, wir haben hier Ihre Papiere.«
    »Wir haben sie drei Wochen lang zusammengesammelt«, betonte Lena, sei es, weil sie stolz auf sich war, oder sei es, um sich zu beschweren. Die Kommission schenkte ihr erneut keine Beachtung.
    Der Mann, vermutlich der Vorsitzende, verlas in lehrerhaftem

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