Biokrieg - Bacigalupi, P: Biokrieg - The Windup Girl
Dachs. Sie hofft noch immer
darauf, eine Möglichkeit zu entdecken, wie sie nach unten klettern kann.
Mit kreisendem Armen bleibt sie vor dem Abgrund stehen. Erneut droht eine Windbö, sie mit sich zu reißen. Da ist nichts. Nichts, woran sie sich festhalten könnte. Sie schaut noch einmal zu der Wäscheleine hinüber. Wenn sie nur …
Die Tür fliegt aus den Angeln. Zwei Weißhemden stürzen hindurch und fuchteln mit Federpistolen. Als sie Emiko entdecken, rennen sie über das Dach auf sie zu. »Du da! Komm her!«
Sie späht zur Straße hinab. Die Menschen sind winzige Punkte weit unter ihr; der Balkon ist so klein wie ein Briefumschlag.
»Halt! Yoot dieow nee! Stehen bleiben!«
Die Weißhemden laufen auf sie zu, rennen, so schnell sie können – und doch erscheinen sie plötzlich langsam. Ihre Bewegungen verlaufen zäh wie Honig an einem kalten Tag.
Emiko kann kaum glauben, was sie da sieht. Die Männer haben inzwischen die Mitte des Daches erreicht, doch sie scheinen durch Reisbrei zu waten. Sich dahinzuschleppen. Ganz langsam. Wie der Mann, der sie durch die Gassen verfolgte und erstechen wollte. Ganz langsam …
Emiko lächelt. Optimal. Sie setzt einen Fuß auf den Dachsims.
Einer der Weißhemden öffnet erneut den Mund, um etwas zu rufen. Hebt die Federpistole, richtet sie auf Emiko. Emiko blickt in den geschlitzten Lauf. Fragt sich wie beiläufig, ob nicht vielleicht sie sich in Zeitlupe bewegt. Ob die Schwerkraft selbst vielleicht zu langsam sein wird.
Der Wind wird immer stärker, fordernder. Die Geister der Lüfte zerren an ihr, wehen ihr die schwarzen Haare gleich einem Netz über die Augen. Sie streicht sie beiseite. Schenkt den Weißhemden – die noch immer rennen und mit ihren
Federpistolen fuchteln – ein ruhiges Lächeln und tritt mit einem Schritt rückwärts ins Nichts hinaus. Die Weißhemden sperren die Augen auf. Ihre Pistolen funkeln rot. Scheiben kreiseln ihr entgegen. Eins, zwei, drei … Sie zählt sie im Flug .. vier, fünf …
Die Schwerkraft reißt sie nach unten. Die Männer und ihre Projektile verschwinden. Sie kracht in den Balkon, schlägt mit dem Kinn auf ihre Knie. Verdreht sich dabei den Fuß. Metall kreischt. Sie rollt sich ab und kracht in das Geländer. Es gibt nach, geht in tausend Stücke, und Emiko wird in die Luft geschleudert. Sie greift nach einer geborstenen Kupferbalustrade. Bekommt sie fassen. Baumelt an einem Stück Metall, weit unter sich die Straße.
Um sie herum gähnt das Nichts, grenzenlos, verlockend. Eine heiße Bö zerrt an ihr. Keuchend zieht sich Emiko auf den schiefen Balkon hinauf. Sie zittert am ganzen Körper, und ihre Glieder schmerzen. Trotzdem gehorchen ihr Arme und Beine noch. Sie hat sich bei dem Sturz nicht einen einzigen Knochen gebrochen. Optimal. Sie schwingt sich mit einem Bein auf den Balkon hinauf, und kurz darauf befindet sie sich in Sicherheit. Metall knirscht. Der Balkon gibt unter ihrem Gewicht nach, die uralten Bolzen lösen sich. Sie verbrennt innerlich. Am liebsten wäre sie einfach liegen geblieben. Bis sie abrutscht und endgültig den Halt verliert …
Von oben sind Stimmen zu hören.
Emiko hebt den Blick. Weißhemden spähen über den Rand des Dachs und zielen mit ihren Federpistolen auf sie. Scheiben prasseln wie silbrige Regentropfen herab. Querschläger schlitzen ihr die Haut auf, schlagen Funken auf Metall. Die Angst verleiht ihr ungeahnte Kräfte. Sie wirft sich durch die Balkontür. Optimal. Glas splittert. Schlitzt ihr die Handflächen auf. Funkelnde Scherben hüllen sie ein, dann hat sie
die Tür hinter sich gelassen und rennt wie ein Blitz durch das Apartment. Menschen starren sie an, bestürzt, unfassbar langsam …
Wie erstarrt.
Emiko bricht durch eine weitere Tür, bleibt im Flur stehen. Weißhemden kreisen sie ein. Sie stößt sie beiseite. Ihre überraschten Schreie klingen bleiern. Sie lässt sie hinter sich, stürzt die Treppe hinunter. Hinunter, immer weiter hinunter. Die Weißhemden bleiben hinter ihr zurück. Schreie folgen ihr.
Ihr Blut kocht. Das Treppenhaus steht in Flammen. Sie stolpert. Lehnt sich gegen die Wand. Selbst der heiße Beton ist kühler als ihre Haut. Ihr wird schwindlig, aber sie taumelt trotzdem weiter. Die Rufe der Männer werden lauter. Ihre Stiefel hallen über die Stufen.
Immer im Kreis rennt sie die Treppe hinunter. Sie drängt sich an zahllosen Menschen vorbei, an den Hausbewohnern, die von der Razzia aufgescheucht wurden. Dabei ist ihr so heiß, dass sie alles nur noch
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