Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
hinunter. Mir wurde schwindlig – ich kann bis heute nicht in die Tiefe schauen. Die ganze Felswand neigte sich vor, als wollte sie mich über den Rand kippen – ein bisschen so, als ob die Welt ein Rad wäre, das vorwärtsrollt. Ich dachte – ich glaubte zu sehen, wie die Ranken sich von der Wand lösten. Ich wollte schreien, das weiß ich noch, aber mein Hals war wie zugeschnürt.
Und ich … ich wäre beinah gesprungen. Hinter ihm hergesprungen.
Ich kann es nicht erklären, nicht richtig jedenfalls. Ich meine, natürlich war ich todunglücklich – ich war sieben, und ich liebte diesen Hund wie nur irgendwen von meiner Familie. Aber das war es nicht allein. Ich wollte auch sterben. Das, was ich getan hatte, war so fürchterlich, dass mir nichts anderes übrigblieb. Das wusste ich. Erst sieben Jahre alt, und ich wusste schon, was es heißt, sterben zu wollen.
Aber … es war mehr als das. Es ging nicht nur ums Sterben -wollen. Es ging ums Sterben müssen. Wir sind damals zur Kirche gegangen, meine Familie und ich, und es war nicht nur das Gefühl, dass ich Unrecht getan hatte – mir kam es vor, als bäumte die ganze Welt sich auf, als wollte Gott, dass ich sterbe, weil ich etwas so Schlimmes getan hatte, dass ER mich nur noch in den Abgrund fegen konnte, meinem armen Hund hinterher.
Es war, als hätte ich keinerlei eigenen Willen mehr. Meine Hände schrammten über die Kiesel, und immerzu sah ich Gale vor mir, seine Beine, die in der Luft ruderten, so wie auch meine gleich rudern würden. Sobald ich meinen Widerstand aufgab und losließ.
Kristen schweigt lange Zeit. Dann sagt sie: Du bist nicht gefallen.
Nein.
Was hast du -?
Mich flach auf den Boden gelegt. Die Backe an die Erde gedrückt und die Augen zugemacht und irgendwelche Grasbüschel zu packen bekommen und mich mit aller Macht daran festgekrallt. Und irgendwann ließ der Schwindel nach. Als meine Stimme mir dann wieder halbwegs gehorcht hat, habe ich geschrien, bis meine Eltern kamen.
Und dann?
Eine Woche lang hab ich nur geheult, und ich hatte Alpträume … ich hab heute noch Alpträume. Immer wieder befördert mein Hirn mich zurück an die Stelle, und wir spielen das Ganze noch mal von vorn durch.
Er seufzt, ein langer, tiefer Seufzer, und sagt: Nur dass ich am Schluss meistens falle.
Sie wendet sich ihm zu und schlingt die Arme um ihn. Er spürt ihre Wange an seiner nackten Brust. Die Wange ist feucht. Sie hält ihn ganz fest.
Jetzt du, sagt er nach einer Weile. Jetzt das Schöne.
Sie umschlingt ihn fester.
Komm schon, sagt er, erzähl.
Er drückt die Nase in ihr Haar, das nach Erdbeeren und Schweiß riecht. Er schließt die Augen und versucht ihr Gesicht zu sehen, aber ein Teil von ihm ist noch weit weg. Er sieht den Fels, grau und nass.
Bitte, sagt er. Bitte erzähl.
II. DIE KLEINEN KINDER SCHICKT DER HIMMEL
Natalie und Joan glauben nicht an Gott. Jede Vorstellung von Schicksal, Vorsehung widerstrebt ihnen. Die Dinge passieren ohne tieferen Sinn. Das gehört mit zu ihrer Liebe: verstanden zu haben, dass diese Liebe, in Anbetracht all der Ordnung, die das Universum verweigert, auch ein Glaube ist.
Schließlich hat nichts in ihrem bisherigen Leben die Vermutung nahegelegt, dass die Welt gutheißt, was sie tun – nämlich einander berühren, miteinander schlafen, miteinander leben. Joan, das Kind von Hippies, hat nie an Gott geglaubt, aber über sich weiß sie seit ihren Teenager-Jahren Bescheid, und sie hat zur Genüge feststellen können, wie die Welt dazu steht. Für Natalie, Ex-Katholikin, Ex-Hetero, war das ein mühsamerer Prozess; Joan hatte kein Selbstverständnis, von dem sie sich abkehren musste, Natalie schon. Sie vermisst die Messe, die Tröstlichkeit von Ritual und Antwort. Und manchmal vermisst sie auch ihre alten Lieben. Sie war einmal verlobt, mit einem netten Mann, den bestimmt keine Schuld daran traf, dass sie nach und nach zu verstehen – zu glauben – begann, was es mit ihren Gefühlen für Frauen auf sich hatte. Sie wollten ein Kind haben, sie und dieser Mann, und als sie dann ihr Coming-Out hatte – und auch ein Jahr später, als sie mit Joan zusammengezogen ist -, war einer ihrer Gedanken, dass sie sich die Mutterschaft nun abschminken kann, wahrscheinlich für immer.
Bis heute Morgen, als sie ihr wieder zum Greifen nahegerückt ist. Als Joan gesagt hat, also gut, wagen wir’s. Machen wir das mit dem Kind.
Das gesamte zweite Jahr ihrer Beziehung haben Natalie und Joan über ein Kind verhandelt.
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