Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
seinen Solos. Vor fünf Jahren hätten wir uns am Flughafen von Ljubljana verabschiedet, jetzt hat die Technik alles unmittelbarer gemacht. Ich stand in meinem Atelier, den Hörer ans Ohr gedrückt, und sah durch das Fenster hinaus über unser Tal. Die Sonne ging gerade unter, und die Gipfel im Osten glühten in einem tiefen Orange, als würden sie brennen. In Nepal stand Jozef unter einem leuchtenden Vollmond.
Ich stehe da und schaue auf die Wand, sagte Jozef. Du solltest sie sehen. Ein unglaublicher Anblick.
Ich habe sie gesehen, sagte ich. Jozef hat ein Jahr lang Bilder davon im ganzen Haus verteilt. Ich brauchte sie nicht vor mir zu haben, um sie zu fürchten. Kehr um, sagte ich.
Ani, sagte er. Mach das nicht, bitte.
Und wir schwiegen eine Weile, lauschten dem Summen in unseren Telefonen. Ich versuchte ihn vor mir zu sehen, da, wo er jetzt war: auf einem Gletscher, das Eis blau im Mondschein, die schaurige schwarze Wand eine Fratze, die den halben Himmel auslöscht. Jozef nimmt auf seine Touren kein Telefon mit. Ein Funkgerät, ja, fürs Routenfinden und für Notfälle. Aber ein Telefon, sagt er, entweiht die Aura des Berges. Wenn wir erst aufgelegt hatten, würde ich nicht noch einmal mit ihm sprechen können. Vielleicht überhaupt nie mehr. Dennoch wusste ich nicht, was ich ihm sagen sollte.
Sag mir, dass du mich liebst, sagte Jozef. Ich muss los.
Wir haben eine Übereinkunft, Jozef und ich. Am Berg muss er konzentriert sein. Er muss wissen, dass ich ihn liebe, dass nichts zwischen uns steht. Wenn er überleben soll, darf er den Aufstieg nicht wütend beginnen, nicht abgelenkt.
Aber ich sagte: Bitte, lass es sein. Es ist nicht ehrenrührig, wenn du umkehrst. Komm heim zu mir.
Ani, sagte er, sag es.
Sogar durch unsere kleinen Telefone konnte ich hören, wie gepeinigt seine Stimme klang. Einmal hat er mir gesagt: Weißt du, wie ich es die Berge hinaufschaffe? Ich stelle mir vor, sie trennen mich von dir. Ich ziehe mich mit meinen Händen zu dir hin. Aber ich war einundzwanzig, als er mir das sagte. Damals glaubte ich, wir besäßen magische Kräfte, wir beide zusammen.
Wenn du sonst nicht losgehst, sagte ich, dann sage ich es nicht.
Ich gehe. Das haben wir doch alles durchdiskutiert.
Ich hatte es nicht anders erwartet. Ohne seine Sturheit wäre er nicht mehr am Leben.
Ich weinte. Ich liebe dich, sagte ich ihm, und es kam mir wie eine Kapitulation vor.
Ich liebe dich auch, sagte er. Und dann sagte er, was er jedes Mal sagen muss, unser Mantra: Ani, solange du mich liebst, kann mir nichts zustoßen.
Darauf hatte ich zu antworten: Bis bald. Ich hätte ihn anschreien mögen, das Telefon an die Wand knallen.
Jozef, sagte ich, das ist das letzte Mal.
Ich hielt das Telefon von mir weg und ging ins Wohnzimmer, wo Stane darauf wartete, dass ich fertig wurde.
Sag deinem Vater, dass du ihn lieb hast, sagte ich. Sag ihm auf Wiedersehen.
Vier Tage lang war ich so wütend, dass ich das Gefühl hatte, in Stücke zerspringen zu müssen. Und jetzt vergehe ich fast vor Scham, furchtbarster Scham. Er könnte sterben – ganz gleich wodurch -, und ich bin zu selbstsüchtig, um ihm zu sagen, dass ich ihn liebe?
Jozef und ich sind für einander geschaffen, glaubte ich früher.
Wir sind es immer noch, weiß ich jetzt – wenn auch aus ganz anderen Gründen.
II.
Gleich nach Karels Ankunft hier haben wir einen Besuch bei seinem und Jozefs Vater vereinbart. Karel ruft ihn zwar regelmäßig an und hält ihn über Jozefs Aufstieg auf dem Laufenden – aber Papa ist ein schwieriger Mensch, ganz sicher sind wir bei ihm nie, was er hört und was nicht. Zu ihm fahren ist das Mindeste, was wir tun können.
Papa lebt eine Stunde entfernt von hier, außerhalb von Maribor, und wir brechen gleich morgens auf. Ich bin in Mörderlaune, als ich uns drei im Haus herumscheuche. Mir tut der Kopf weh; ich wüsste nicht, dass ich auch nur eine Minute geschlafen habe. Stane quengelt, weil er in die Badewanne soll, und ich schnauze ihn an, was ihn nur noch nörgliger macht. Karel, der ewig Hilfsbereite, sagt, er kann fahren. Wir wollen gerade zur Tür hinaus, da ruft Hugo an.
Er ist oben am Grat, sagt Hugo. Wir haben ihn gesehen, als es hell wurde. Er hat ein Lager aufgeschlagen.
Ein Lager? Heißt das, er will zum Gipfel?
Ich bin so schlau wie du, sagt Hugo. Aber er ist die ganze Nacht durchgeklettert, um da hochzugelangen. Er muss so oder so erstmal ausruhen – wo er nun schon auf ebenem Gelände ist. Egal ob er von da
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