Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
verdorben. Ich weiß das. Sara hat es mir gesagt, als sie gestorben ist. Ich habe es erst verstanden, als es zu spät war. Ich habe Gaspar verloren, und bald verliere ich Jozef. So straft Gott mich. Ich muss am Leben bleiben, und meine Söhne müssen sterben.
Papa, sage ich, bitte sag nicht solche Sachen. Denn während er spricht, rieseln mir Schauder an den Armen auf und ab. Seine Augen sind rotgerändert, seine Stimme ein Krächzen. Er klingt völlig verrückt und völlig bei Verstand, beides zugleich.
Er hat alles von mir, sagt Papa. Jozef kehrt nicht um. Er will ganz nach oben. Er muss es allen beweisen. Und weißt du, warum ich das so genau weiß? Weil er von mir seine ganze Kindheit über gehört hat, dass er nichts taugt. Ich weiß, was er denkt. Schau mich jetzt an, Papa, denkt er. Schau, wohin ich es geschafft habe. Und wenn er Bankier oder Arzt wäre, dann würde er es zu Recht denken. Aber ich habe einen Wahnsinnigen aus ihm gemacht, und schau dir an, womit er sich zu beweisen versucht!
Papa lässt den Ordner schwer auf meine Knie fallen.
Ich habe gedacht, vielleicht bist du der Mensch, der ihn zum Aufhören bringt, sagt Papa. Ich habe gedacht: Das ist eine Frau, die ihn auf den Boden zurückholt. Und als dann euer Sohn gekommen ist … So ein lieber Bub! Du hast völlig Recht, dass du ihn so hütest, das muss ich endlich lernen. Ich habe alles Stane vermacht, weißt du.
Papa schüttelt den Kopf, und ich muss mir das Weinen verbeißen.
Mit einem Zittern in der Stimme sagt er: Jozef verschleißt dich, und den Buben auch. Ich habe versucht, ihm das klarzumachen. Aber er hört nicht auf mich, keiner hört auf mich.
Ich versuche es ja, sage ich. Ich versuche auch, es ihm klarzumachen.
Der Blick, mit dem Papa mich anschaut, ist gequält und durchtrieben zugleich.
Vielleicht. Aber vielleicht verziehst du ihn auch, hm? Vielleicht verziehst du deine beiden kleinen Männer.
Stane kommt in den Garten gelaufen, Papas Namen rufend und lachend. Er hält etwas in der Hand – was, das kann ich nicht erkennen. Papa ruft ihn her, und Stane rennt zu uns, Arme und Beine schlenkernd, mit roten Backen.
Du hörst auf mich, Ani, oder?, sagt Papa, und dann steht Stane vor ihm. Papa fängt ihn mit einem Arm ein und kitzelt ihn mit der freien Hand und sagt: Hast du deinen Großpapa lieb? Sag es, sag, dass du deinen Großpapa lieb hast, komm, sag’s, sag’s!
Ich hab meinen Großpapa lieb!, quiekt Stane.
Das ist recht so, sagt Papa, und er hält Stane mit seinen gro ßen Händen fest und küsst sein Haar. Seine Augen suchen meine, gleiten wieder zurück, und er sagt: Dein Großpapa hat dich nämlich auch lieb.
Es dämmert, als wir von Papa wegfahren. Stane fallen schon die Augen zu, und wir sind noch keine zwanzig Minuten unterwegs, da ist er auf dem Rücksitz eingeschlafen. Karel fährt ohne ein Wort, und ich breche das Schweigen auch nicht.
Papa hat Recht. Wenn Jozef nicht am Shipton’s Peak umkommt, dann an irgendeinem anderen Berg. So vieles dort oben ist unwägbar. Jozef sagt, dass Gaspar der bessere Kletterer war – und Gaspar ist tot, verschwunden, ohne auch nur einen Leichnam zu hinterlassen, den man beerdigen könnte.
Er starb nicht lange nach unserer Hochzeit. Die Expedition war schon in Planung, als Jozef und ich uns kennenlernten: der Südostpfeiler von Annapurna III, senkrecht und messerscharf. Er und Gaspar würden ihn schnell und leicht angehen, Erfolg haben, wo alle anderen gescheitert waren. Und in der Tat lief es blendend – so gut, dass sie kurz vorm Gipfel, in kombiniertem Gelände, getrennte Routen nahmen, ohne Seil. Wir sind um die Wette geklettert, sagte Jozef mir.
Jozef erreichte den Rücken des Berges. Er wartete und wartete auf Gaspar, aber Gaspar kam nie an. Das Wetter, das die ganze Woche mitgespielt hatte, schlug um. Jozefs Basislager forderte ihn zum Herunterkommen auf. Aber er konnte doch Gaspar nicht im Stich lassen.
Er sagte mir etwas später, voller Scham: Zuletzt haben sie mir gesagt, ich darf dich nicht zur Witwe machen.
Jozef seilte sich die ganze Nacht durch ab, kämpfte sich stundenlang durch den Schneesturm. Als er schließlich im Lager anlangte, war er halb erfroren und delirierte. Er sagte mir, im allereisigsten Sturm habe er meine Stimme gehört. Meine Stimme, die ihm sagte, dass er durchhalten sollte, dass ich ihn liebte.
Inzwischen ist es kein solcher Schock mehr für mich, Jozef nach einer Expedition wiederzusehen. Selbst wenn alles gut gelaufen ist, kommt er
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