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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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weiterspielen, also gehe ich hinüber ins Atelier und male ein, zwei Stunden – nicht sehr konzentriert. Dann kommt Stane herein, um mir mitzuteilen, dass ich von meinen Vorlesepflichten entbunden bin. Onkel Karel liest mir vor, verkündet er.
    Mein Atelier ist neben Stanes Zimmer, und ich höre den beiden zu, während ich arbeite. Karel bleibt noch bei Stane sitzen, nachdem die Gutenachtgeschichte aus ist, und sie unterhalten sich. Sie haben so eine Ernsthaftigkeit miteinander, die ganze Woche schon: Karel behandelt Stane als einen kleinen Mann, und Stane benimmt sich bei seinem Onkel wie einer.
    Ich öffne ein Fenster und stelle mich davor, um die eine Zigarette zu rauchen, die ich mir an jedem von Jozefs Klettertagen zugestehe. Ich versuche, meine Gedanken hinauszusenden zu Jozef – der jetzt mitten im Klettern sein muss -, aber sie driften immer wieder davon mit dem Rauch und den Stimmen von nebenan.
    Dann steht Karel in der Tür. Du sollst Stane gute Nacht sagen, sagt er.
    Stane liegt auf der Seite zusammengerollt. An einem der stämmigen Bettpfosten, mit einem Stück Schnur oben am Knauf festgebunden, hängt ein Spielzeugsoldat. Seine Füße sind gegen das Kopfbrett gestemmt, und er lehnt sich ins Seil wie ein Kletterer, der ausruht und den schwierigen Überhang über ihm ins Auge fasst, die beste Route abwägt.
    Wann hat er mit dem Aufstieg begonnen?, frage ich.
    Heute. Onkel Karel hat ein Seil gefunden, und wir haben ihn damit losgeschickt.
    Und nimmt er sich in Acht?
    Er nimmt sich sehr in Acht.
    Das ist gut, sage ich. Sagst du mir Bescheid, wie er vorankommt?
    Er schafft es, sagt Stane.
    Ich küsse ihn auf die Stirn und sage: Das glaube ich auch.
    Als ich zurückkomme, steht Karel im Atelier und raucht eine von meinen Zigaretten.
    Ich darf doch?, sagt er und dreht die Zigarette mit sichtlichem Behagen zwischen den Fingern.
    Ich hab letztes Jahr aufgehört, sage ich.
    Ich auch. Er streckt mir die Packung hin.
    Ich beuge mich vor, aber er bringt mein Feuerzeug nicht gleich zum Brennen, also warte ich, vorgebeugt. Wir lachen beide schuldbewusst, als ich schließlich den ersten Zug mache.
    Du hast eine gute Art mit Stane, sage ich.
    Er ist ganz schön aufgeweckt. Ich hoffe, ich langweile ihn nicht.
    Also hör mal. Er vergöttert dich.
    Er vergöttert seinen Papa, das steht schon mal fest. Karel grinst. Weißt du, er hat mich gestern eine ganze Weile über die Uni ausgefragt, und ich glaube, es ist ihm immer noch reichlich schleierhaft, was ich da mache. Schließlich habe ich ihm gesagt, ich sehe Bilder wie deine an, und das hat er verstanden. Und dann hat er gesagt, er will im Freien arbeiten, wenn er mal groß ist, nicht den ganzen Tag drinnen hocken.
    Diese Ansicht ist mir auch schon kundgetan worden.
    Ich sage: Stane ist acht. Morgen wird er dir sagen, dass er ein Restaurant auf dem Mond aufmachen will.
    Karel lacht leise, und so sitzen wir noch ein bisschen. Mit ihm im Haus überschreite ich mein Zigarettenlimit, und zwar gehörig. Ich schaue aus dem Fenster und tue so, als spürte ich Karels Blick nicht. Das ist ihm genug, denke ich, und mir ist es genug, zu rauchen und seinen Blick zu spüren. Wir sind friedlich und ruhig.
    Na, sagt Karel schließlich nach einem demonstrativen Gähnen, dann gute Nacht. Und er drückt mich, rasch, von der Seite, einen Arm um meine Taille gelegt. Weck mich, wenn es Neuigkeiten gibt, ja?, sagt er. Oder wenn du irgendwas brauchst.
    Damit lässt er mich los, geht hinaus in den Flur, ohne mir in die Augen zu sehen.
     
    Später, im Dunkel meines Schlafzimmers, überlege ich: Was genau könnte ich von Karel brauchen?
    Wenn überhaupt, habe ich doch, während Jozef am Klettern ist, eher viel zu viel. Ich liege in einem weichen Bett in einem warmen Haus, Essen und Trinken nur ein paar Schritt entfernt. Dies und nichts anderes meinen wir schließlich mit Sicherheit; dafür bauen wir Häuser, dafür schlafen wir zusammen in Betten. Wo ist Jozef jetzt? In Nepal ist früher Morgen, die kälteste Zeit, in der die Westwand gefroren ist; jetzt eben quert er bei Mondlicht das Eisfeld. Er ist in fast siebentausend Metern Höhe; schon das Atemholen muss ihm schwerfallen.
    Oder er ist tot. Er ist ausgerutscht und abgestürzt, und niemand ahnt etwas davon bis zum Morgen, wenn Hugo mit seinem Feldstecher die Wand absucht und nichts findet.
    Jozef hat all dies frei gewählt. Ob lebend oder tot, er bräuchte nicht da zu sein, wo er ist.
    Und ich habe es mitgewählt.
    Karel schläft am anderen

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