Bis ans Ende der Welt
Scheunenecke blühte brusthoch in den intensivsten Farben. Das war alles nur Unkraut. An jeder Ecke konnte man Thymian, Rosmarin und Lavendel pflücken. Man mußte sich dazu nicht einmal bücken. Ich nahm immer eine Handvoll im Vorbeigehen, zerrieb sie in den Handflächen und roch daran. In der zunehmenden Hitze war es wortwörtlich eine Wonne, und wir berauschten uns daran den ganzen Weg. Der steife Südwind trug uns noch tausend andere Gerüche zu. Es war wie eine Aromatherapie. Wir waren im Süden, alles wuchs und blühte und strebte mit Lust und Gewalt zum Himmel. Am meisten davon die große Libanon-Zeder, die es hier überall gab, gefolgt von den riesigen Pinien. Ein oder zwei solche Bäume gaben dem ganzen Grundstück Schatten. Der Himmel spannte sich weit und tief, daß einem vom Zusehen gar schwindlig wurde, und der Horizont glühte wieder wie eine Feuerbrunst. Ich übte mich mit Sissis Hilfe in der französischen Aussprache, plapperte gemäß meiner Theorie von Hören-Sprechen-Fühlen spaßige französische Sätze und Laute. Elisabeth ertrug meine Narretei mit Geduld und Nachsicht, denn ich glaube, sie sah mich gerne glücklich.
Irgendwo waren unsere Kräfte erschöpft, doch eine zum Ruhen geeignete Stelle wollte und wollte nicht kommen. Also machten wir uns es einfach auf der Terrasse eines im Umbau befindlichen Hauses bequem. Das mittägliche Ambiente lieferte das kleine altertümliche Dorf um uns herum, die benötigte Wohnlichkeit die auf der Terrasse stehengelassenen Gartenmöbel. Wir trauten uns auch deshalb nicht weiterzugehen, damit es Joanna nicht zu weit hatte. Sie aber kam nur kurze Zeit nach uns, scheinbar guter Dinge. Wenn ich bedachte, wie schnell wir zuvor unterwegs waren, so war es keine schlechte Leistung von ihr. Sie taute wieder kurz auf, doch waren wir nach dem verworrenen gestrigen Tag alle nur noch müde. Die Mädchen rollten ihre Schlafsäcke aus, ich versuchte zu lesen und schlief dann im gekippten Sessel mit den Füßen auf dem Tisch und dem Buch in der Hand ein. Den braven Pilgern waren wir abermals entweder ein Ärgernis oder ein schönes Fotomotiv. Doch wenn die Hunde in der Hitze an der Treppe dösen konnten, dürften wir es auch. Und dem Besitzer der Terrasse entstand durch uns kein Schaden.
Nach der Siesta wiederholte sich alles. Joanna wollte allein gehen, sie werde uns schon einholen. Also zogen wir zwei wieder los. Die Temperatur mußte inzwischen gute vierzig Grad erreicht haben. Alles glühte und flimmerte, man konnte im flüssigen Asphalt die Spuren lesen. Irgendwo auf einer einsamen Straße waren wir so fertig, daß wir uns einfach auf die Fahrbahn hockten und dort eine Viertelstunde ruhten. Links und rechts gab es steile Hänge, und wir hatten keine Kraft mehr, weder weiterzugehen noch herumzuklettern. Einige Autos fuhren in dieser Zeit vorbei und wichen geschickt aus. Wir ließen uns nicht im Gespräch stören. Keiner von uns klagte. Wir hatten nur zu warten, bis die Kraft zurückkehrt. Dann marschierten wir weiter. Wäre ich dieses Wegstück allein gegangen, ich hätte wie ein Hund gelitten und meine ganze Willenskraft aufbieten müssen. Aber mit Sissi war es leichter. Alles war leichter mit ihr, auch wenn ich viele der weiblichen Signale nicht verstand. Plötzlich, mitten in einem steilen Abhang tauchte unter uns ein Kirchturm auf, sofort danach ein paar kleine Häuser. Wir haben Conques erreicht, die schönste, romantischste, aufregendste Stadt der ganzen Pilgerschaft. Hier traf ich die vier Kardinaltugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe, Demut. Auch das Tympanon der romanischen Klosterkirche stellt sie dar. Nie werde ich diesen Ort vergessen. Noch ein paar Treppen, noch ein paar schiefe Gehsteige, eine kleine Gasse wie vom Spitzweg mit Blumentöpfen neben der Hauseingänge, und wir standen hundert Meter tiefer unter dem Aufgang zur Pilgerherberge.
Der Führer bezeichnete Conques als die „Perle der Via Podiensis“. Es steht auch im Verzeichnis der Schönsten Dörfer Frankreichs. Und beide Bezeichnungen sind mehr als gerecht. Der Name kommt vom lateinischen Wort für Muschelschale, ein klarer Hinweis auf die Jakobsmuschel als Pilgerzeichen. Die Gründung geht auf eine Einsiedelei des Mönches Dadon, der sich hier Anfangs des neunten Jahrhunderts niederließ. Später wurde auf einem schmalen Plateau hoch über dem Fluß Dourdou ein Benediktinerkloster gebaut. Als Reliquie wurden im Jahre 866 die Gebeine der heiligen Fides von Agen, auf Französisch Sainte-Foy, von
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