Bis ans Ende der Welt
einem anderem Ort „heimlich überführt“. Das heißt dann wohl „entführt“. Hostienraub war damals nämlich eine weitverbreitete Tugend. Fides war die Tochter eines angesehenen Bürgers von Agen und ist am 6. Oktober des Jahres 303 im Alter von 12 Jahren auf einem glühenden Rost gemartert und enthauptet worden. Dies geschah auf Wunsch von Dacius, dem Prokonsul des römischen Aquitanien, nachdem sie sich geweigert hatte, heidnische Götter anzubeten. Sie war damit eine der ersten der vergleichsweise wenigen Märtyrer im römischen Gallien. Sie ist eine sympathische Heilige, die viele Wunder bewirkte, insbesondere an Blinden. Ein übergroßer goldener Kopf mit Edelsteinen, der sie darstellen soll, steht neben vielen anderen Goldschmiedarbeiten im Stadtmuseum. Dafür aber hatte ich keine Zeit, das war nur etwas für Touristen. Von denen, wie von den Pilgern, lebte und lebt der Ort. Noch im dreizehnten Jahrhundert war Conques ein Muß für jeden mitteleuropäischen Jakobspilger. Das Kloster wurde aber im Jahre 1537 säkularisiert und verfiel. Es fehlte nicht viel, und auch die großartige Kirche wäre als baufällige Ruine abgerissen worden. Die Reliquien und andere Schätze wurden von den Einheimischen Jahrhunderte lang versteckt gehalten. 1837 setzte sich der Schriftsteller Prosper Mérimée, Autor der „Carmen“, in seiner Funktion als oberster Denkmalschützer Frankreichs erfolgreich für den Wiederaufbau ein, und im Jahre 1873 wurden hier Prämonstratenser ansässig, die auch das Pilgerhaus hinter der Kirche bewirtschaften.
Hier wogen die Menschenmassen hin und her, alles war voll touristischen Tatdrangs wie in einer Hotelrezeption irgendwo an der Riviera. Die meisten Gäste waren passend dazu sauber und adrett gekleidet, sind garantiert nicht zu Fuß über staubige, hitzeflimmernde Wege hierher gelangt. Es fehlte ihnen diese kleine Erschöpfungsfalte in der Wange, die sich nach so einem Marsch in die Physiognomie eingräbt. Und wie in so einer lebhaften Hotelrezeption, bedurfte es eines ziemlichen bürokratischen Aufwandes, um in den Schlafsaal zu gelangen. Wir haben hier viel Zeit verplempert und es mit Duschen und Wäschewaschen gerade zum Speisesaal geschafft, wo wohl über hundert Personen bereits auf das große Souper warteten. Als die Letzten nahmen wir hinten Platz, es stellte sich aber heraus, daß es die Stirn des Tischarrangements war und wir damit wie auf der Bühne saßen. Wie üblich, dieser Fehler passierte mir schon in Einsiedeln und wird mir immer wieder passieren, aber es war mir nach anderthalb Tausend Kilometer Marsch völlig gleichgültig. Ein Pilger regt sich nicht über alles auf. Nicht Eitelkeiten, sondern nur die elementarsten Dinge wiegen.
Es waren so ziemlich alle Bekannten vom Camino da, die wir in den letzten Wochen kennenlernten. Auch Stephanie und die zwei deutsche Ehepaare, auch die alte Frau mit dem Kind. Nur keine Joanna. Aber es war jetzt keine Möglichkeit, etwas zu tun, außer sich den Magen vollzuschlagen. Davor jedoch stand als Hürde noch die Ansprache des Abtes. Dieser Mann marschierte nicht den ganzen Tag, verbrauchte nicht die letzte Kraft auf staubigen Wegen, drückte sich nicht Sohlen und Schultern platt, schwitzte nicht den letzten Tropfen verfügbarer Flüssigkeit aus. Er verbrachte einen besinnlichen Tag, sein Zucker-, Wasser- und Mineralienhaushalt waren im perfekten Gleichgewicht. Also begrüßte er die lieben Pilger überschwenglich und ausdauernd, damit sie etwas für ihr Geld und ihre Mühe bekommen und sich gut an Conques und die hier erbrachte Gastfreundschaft erinnern, wenn sie nach Hause zurückkehren. Ich aber war hungrig und durstig, daß mir das Hören und Sehen verging. Ich wette, so etwas wäre dem lieben Abt nie in den Sinn gekommen. Nicht an diesem Tag. Immerhin hatte die Aktion etwas Gutes. Erstens lud er uns alle zu einem Gesangskonzert in der Kirche ein. Zweitens tauchte, verstaubt und verschwitzt, mitten drin Joanna auf. Gut, daß wir einen Platz für sie freigehalten haben. Sie aß wortlos mit uns und verzog sich nach dem Dinner ähnlich wortlos ins Bett, wo sie sofort einschlief. Die Arme muß ziemlich fertig gewesen sein.
Nun sind wir also mit Sissi ins Konzert gegangen, das in der Akustik des dreistöckigen Kirchenschiffes ziemlich einmalig war. Angeblich waren die Sängerknaben in Frankreich gut bekannt, was ich natürlich nicht wissen konnte, doch gerne zu glauben bereit war. Zu einem Zeitpunkt verteilten sich die Akteure in dem
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