Bis ans Ende der Welt
Pause ein, doch ohne Erfolg. Kaum erholt zogen wir in der flimmernden Hitze weiter. Unser Wasser war längst verbraucht. Erst im letzten Augenblick tauchte die Stadt tief unter unseren Füßen auf. Der lange steile Abstieg kam uns schlicht endlos vor. Unten am Stadtrand stand aus irgendeinem Grund die Polizei, und wir waren so fertig, daß wir ihr nicht einmal aus dem Weg gingen. Es war erst insgesamt das dritte Mal, daß ich in Frankreich Polizei sah. Ich hätte darauf freilich auch diesmal verzichten können, doch es wurde hier und heute ein Afrikafest gefeiert und daher mußte für die allgemeine Unsicherheit mehr Beitrag geleistet werden. Allerdings wird um Cajarc Safran angebaut, laut Führer das teuerste Gewürz der Welt. Mußte es bewacht werden? Die Polizisten beobachteten uns über eine sehr lange Strecke mit Ferngläsern, ließen uns grußlos passieren und fuhren dann ganz langsam mit offener Schiebetür und herumhängenden Maschinenpistolen in unserer Richtung weiter. Sie hätten uns auch anbieten können, uns zur Herberge mitzunehmen, da wir sie zuvor nach dem Weg dorthin fragten. Fertig genug sahen wir aus. Aber sie taten es nicht. Statt dessen beobachteten sie uns argwöhnisch aus dem Augenwinkel, während sie vorbeifuhren. Sogar der brave Staatsbürger François mußte anerkennen, daß dies eine miese Polizeimasche war, um die Bevölkerung zu pazifisieren und der Gewalt vorzubeugen. Flics! In Frankreich ein Schimpfwort. Doch der Herr aß auch mit den Haderlumpen, was ihm die Pharisäer echt übel nahmen, so sandte ich ihnen den Segen nach, man möge sie nicht mit Steinen bewerfen. Auch wenn so ein Polizist nur ein Kentaur ist — halb Mensch und halb Pferd. Einer von ihnen, Chiron, der Jagd und der Heilwissenschaft kundig, Trainer und Erzieher der griechischen Helden, war dem Mythos nach sogar menschenfreundlich.
Wir erreichten den Gîte auch so auf eigenen Beinen, doch er war voll. Einerseits wegen des Afrikafestes, andererseits wegen einer mannstarken Radfahrergruppe, die sich hier einnistete. Reservierung hatten wir diesmal nicht, aber viel Sympathien als brave Pilger. Vor allem ich konnte mit den anderthalb tausend Laufkilometer gut punkten. Wir waren ein wenig ratlos, weil diese Etappe lang und anstrengend war, und die nächste freie Herberge über unseren Kräften lag. Wir mußten hier übernachten, koste es, was wolle. Sogar ein Hotel wäre uns recht, doch es war alles voll. Nicht einmal der Pfarrer, den wir frech aufsuchten, wußte Rat. Alles hoffnungslos belegt. Nun schlug ich vor, mangels besserer Alternativen erst in der Herberge zu duschen und die Kleidung zu waschen, dann in der Stadt Essen zu gehen und alles andere dem Herrn zu überlassen, weil er mich in dieser Hinsicht noch nie im Stich ließ. Als den letzten Trumpf hielt ich das Übernachten auf dem Friedhof im Ärmel. Die Schweizer Methode: Fließendes Wasser, ruhige Nachbarn. Der letzte Punkt kam François allerdings suspekt vor. Auf dem Friedhof übernachten? Unüblich, unhöflich, beispiellos. Dann schon lieber auf den Herrn setzen. Also suchten wir ein nettes Restaurant heim und bekamen eine halbwegs anständige Mahlzeit mit der üblichen Flasche Wein je Person. Alle Menschen um uns waren fröhlich und an der Ecke spielten ein paar Gaukler. Wir vergaßen völlig, noch ein kleines Problem zu haben. Etwa um acht Uhr wurde beschlossen, uns der Wahrheit zu stellen, und wir kehrten in den Gîte zurück. Und siehe da, ein ganzes Zimmer mit vier Betten stand leer. Jene, die es reserviert haben, kamen nicht. Wir hatten keine Absicht, bis Mitternacht auf sie noch zu warten, und gingen zu Bett. Schließlich waren wir rechtschaffen müde. Sie kamen wirklich nicht mehr, sonst hätte es noch sehr peinlich werden können. In der Nacht bekam ich mit, daß eine junge Frau aus einem der Zimmer, die von den netten Radfahrern belegt wurden, auszog und in der Küche das Lager aufschlug. Ich schlief weiter, erst am Morgen erfuhr ich die Lösung. Lieber schlief sie auf der Küchenbank, als das Schnarrchen ihres Freundes zu ertragen. Da schämte ich mich für die zwei Betten, die bei uns noch leer waren. Uns wurde der Schlafplatz heute ganz ohne Zweifel geschenkt. Wortwörtlich, denn wir hatten dafür nicht einmal was zu bezahlen. Hätten wir da nicht mehr aufmerksam zu einem unserer Nächsten sein müssen?
Varaire, km 1612
Der Morgen verlief chaotisch, da die Franzosen in der Frühe eine wahnsinnige Eile haben. Haben sie nie davon gehört, daß man
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