Bis ans Ende der Welt
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Der nächste Tag begann mit einem guten, reichhaltigen Frühstück, dann aber etwas lustlos. Ich trieb mich erst eine Weile in Livinhac herum, kaufte in Geschäften Brot, Käse und Wurst ein und überlegte gar, zum Friseur zu gehen. Irgendwie kam man hier nicht so richtig weg. Überall traf man herumstreunende Pilger, und es war einfach noch zu früh. Der Himmel war grau und die Temperatur mäßig. Ich fühlte mich nicht besonders gut, vielleicht habe ich mich am Tag zuvor erkältet. Kein Wunder, wenn man immer verschwitzt in eine kalte, feuchte Kirche beten geht. Bei dem Kälteschock muß man früher oder später krank werden. Aber das dürfte ich nicht. Dafür war ich nicht gerüstet und die Herbergen auch nicht. Als Joanna vor ein paar Tagen nicht mehr weiter konnte, dürfte sie auch nicht im Bett bleiben. Man konnte nur weitergehen oder heimfahren. Eine andere Möglichkeit gab es für Pilger offenbar nicht. Zumindest schwitzen konnte man im Marsch wie unter einer dicken Decke. Bis einem das Herz stehen blieb oder die Lunge platzte. In deine Hände, Herr, lege ich mein Leben. Und ehrlich gesagt, sollte ich hier, inmitten der blauen Schmetterlinge, den Duft der Lavendel in der hohlen Hand, tot umfallen, das Schlimmste wäre es nicht. Besser als auf weißem Kissen unter der künstlichen Lunge. Und so, frei von der Sorge um das leibliche Wohl, schlug ich mich durch, Schritt für Schritt, zwar mühsam, doch ohne dabei wesentlich langsamer zu werden. Es kam einfach nur kein Glück auf, wie es sonst der Fall wäre.
Zur Ablenkung sandte mir der Herr nun François aus Quebec. Mit Plattfüßen, kaputtem Rücken und wer weiß was mehr hatte er es nicht gerade leicht und ließ sich von mir mitziehen. Vom Beruf war er Immobilienmakler. Zu Hause in Kanada war er mit einer französischen Frau liiert und begleitete sie nach Europa zu ihren Eltern. Offenbar aber hatten sie Streit, und er landete allein bei den Pilgern. Warum ausgerechnet auf dem Camino und nicht lieber irgendwo am Strand, erfuhr ich nicht, aber es war offensichtlich, er fühlte sich hier glücklich. Bis nach Cahors sollte er mir anstelle der Mädchen ein treuer, aufmerksamer und unterhaltsamer Begleiter sein. Er bewunderte meine Ausdauer und vermutete wie die Nepal-Amerikaner einen militärischen Hintergrund. Doch am meisten schätzte er meine Fähigkeit, die schönsten Ecken ausfindig zu machen, um dort stundenlang zu faulenzen, ohne im geringsten in der Tagesleistung einzubüßen. Abgesehen von meiner augenblicklichen Erkältung hatten wir viel Spaß, sprachen viel nicht nur miteinander, sondern einfach mit jedem, den wir auf dem Weg trafen, ob Pilger oder Einheimischer. Schließlich konnten wir als Team in fast allen gängigen abendländischen Sprachen kommunizieren und hatten absolut keine Hemmungen, völlig fremde Menschen mit ins Gespräch zu ziehen. Um François herum herrschte immer eine gute Stimmung, das spürte man irgendwie, und jeder, den wir ansprachen, machte gerne mit, öffnete sich, wurde froh und gut. François hörte sich geduldig meine Theorien über Literatur, Sprachen, Reisen und den Verfall der abendländischen Zivilisation an, als ob sie neu und toll und spannend wären. Sonst reagieren die Menschen entweder gelangweilt oder gar gereizt darauf. „Schreibe es auf, Junge, schreibe alles auf,“ spornte er mich an. Dann machte er spontan halt, warf seine Schaummattratze ins Gras, rollte sie blitzschnell aus und streckte genüßlich seinen müden Rücken aus. Wie ein Hund im heißen Staub, um die Flöhe loszuwerden. Sein Interesse galt vor allem alten Häusern und Tieren. Die gab es hier freilich reichlich. Längere und kürzere Diskurse mit allen möglichen Kötern und Rindviechern waren stets willkommen. Auch die Kommunikation mit Felsen, Ecksteinen und Bäumen galt nicht als unfein. Aber man konnte mit François auch ganz gut schweigen, wenn man wollte. Vor allem, wenn man schneller ging. Dann brauchte er den Atem, um nicht abgehängt zu werden. Aber er hielt sich in jeder Hinsicht tapfer.
So kamen wir leicht und unbeschwert nach Figeac . Der Pilgerführer listet da ganze fünf Herbergen. Doch als wir am Nachmittag ankamen, waren sie alle bereits belegt. Unsere Reservierung ging irgendwo verschütt. Wir setzten unseren ganzen Charme ein, vergeblich. Ich fühlte mich wegen der Erkältung nicht wohl und hätte gern endlich ein Dach über dem Kopf. Es war hoffnungslos. Immerhin ließ man uns im Karmeliterkloster, wo wir ursprünglich
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