Bis ans Ende der Welt
gerade in einer Bar lustig hielten, brachte das allgegenwärtige Fernsehen die Nachricht, zwei Passagierflugzeuge seien auf dem Flughafen von Madrid zusammengestoßen und Hunderte Urlauber ums Leben gekommen. Als Pilger lebt man irgendwie jenseits der Wirklichkeit. Man geht seinen Weg, meist mit Mühe und Not, beißt die Zähne zusammen, pflegt seine Wehwehchen, ißt, trinkt und schläft, erfährt kaum etwas von den Schlagzeilen, welche die Welt beschäftigen. Hier aber holte uns die Wirklichkeit plötzlich ein. Allen hat es die Sprache verschlagen, sogar den Säufern und den Automatenspielern. Die junge Spanierin trauerte doppelt — für die Opfer als solche, und weil es ein spanisches, ein nationales Unglück war. Ein feiner patriotischer Zug. So wie sie mir bei unserer ersten Begegnung erzählte, sie sei stolz auf ihr Land, und es täte ihr weh, mich darüber schimpfen zu hören. So sind wir traurig ins Bett gegangen, und das Pärchen gab am nächsten Tag das Pilgern auf. Wegen brennender Fußsohlen konnte er nicht mehr, und sie, auch ganz schön fertig, hätte ohne ihn nicht weitergehen wollen. Lieber wollten sie die restliche Zeit irgendwo in einem netten Hotel an der Küste verbringen. Den Camino aufzugeben wiegt oft schwerer, als ihn zu beginnen. Doch diesmal lag keine Traurigkeit darin. Eigentlich haben beide ihr Ziel schon hier und jetzt erreicht — sie haben sich kennen- und liebengelernt.
Navarette, km 2232
Diese eine Nacht in Viana war beileibe kein Honiglecken. Trotz der offenen Fenstern war die Luft in dem überfüllten Zimmer heiß und stickig. Gute dreißig Grad Celsius waren es bestimmt. Zu allem Überfluß gab es auch noch die Wanzen. Die Blutsauger kriechen an den Füßen unter die Decke und beißen sich im Bauch und Rücken des ahnungslosen Schläfers fest. Nach der Mahlzeit bedanken sie sich damit, daß sie ihre Exkremente in die Wunde reiben, was so ziemlich alles über ihren miesen Charakter sagt. Die Bisse schwellen dann bösartig auf, verheilen lange nicht, jucken und schmerzen. Manche Opfer reagieren gar mit einem allergischen Schock. Eine so große Albergue mag trotz Billigstpreise zehn- bis zwanzigtausend Euro monatlich einnehmen und ist fünf, sechs und mehr Monate im Jahr gerammelt voll. Da sollte eigentlich genug Geld zusammenkommen, um die Bude sauber und wanzenfrei zu halten. Bis dahin handelte ich mir schon vier Wanzenbisse ein. Einen in der Schweiz und zwei in Frankreich. Deshalb schlief ich auch bei der größten Hitze in völlig verschlossenem Schlafsack. Und zwanzig Mann in einem kleinen Zimmer, dicht bis zur Decke geschichtet, produzieren jede Menge Hitze. Somit war dann diese Vorsichtsmaßnahme geradezu eine Heldentat. Aber sie zahlte sich aus, und ich blieb unversehrt, was die meisten anderen Mitschläfer von sich nicht behaupten konnten.
Am Morgen strömten sie schimpfend und klagend aus dem Haus wie die Luft aus einem kaputten Reifen. Aber es war nicht das Grauen vor den giftigen Wanzen, sondern die kleinliche Sorge um den nächsten Schlafplatz, die sie antrieb. Nur ich trödelte wie üblich, da ich in diesem Spermienlauf um den besten Platz nicht sehr gut bin. Ich kann für mich schon sorgen und mache meine Hausaufgaben, irgendwie, aber der Rest sei dem Herrn überlassen. Möge sich doch der Narr nach Bagdad beeilen, um dort den Tod zu treffen. Es dauerte also eine geraume Weile, bis auch ich ohne Frühstück das mittlerweile leere Haus verließ und wieder die kühle Morgenluft atmete, da war ich erleichtert, ja fast gerührt, die miese Bude hinter mir zu lassen. Und dieses Gefühl begleitete mich noch lange. Vor dem Aufbruch mußte ich in dem Ankleideraum mit Schuhen und Stöcken erst eine Weile nach meinen Sachen suchen. Ich fand sie wieder, wenn auch nicht an der Stelle, wo ich sie gestern zurückließ. Wer weiß, durch wie viele Hände sie an diesem Morgen gegangen sind, bis jeder sein eigenes Zeug beisammen hatte. Auch deshalb war ich wieder einer der Letzten. Ich marschierte in schlechter Kondition, mußte bald dringend auf die Toilette, fand aber keine und auch keinen Platz, der einsam genug wäre. Nicht nur Pilger zogen mit mir durch die Landschaft, sondern auch etliche Touristen, Jogger und vor allem wieder und wieder Radfahrer, die hier geradezu widerlich waren. Es machte sich der schlechte Einfluß der Industriestadt bemerkbar, denn nur zehn Kilometer waren es von Vianna nach Logroño, immer entlang der Nationalstraße, vorbei an einem Naturschutzgebiet, wo
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