Bis ans Ende der Welt
man über dem See Vögel beobachten konnte. Alles in allem ein gutes Naherholungsziel für streßgeplagte Großstadtbewohner, deren natürliche Instinkte schon soweit gestört sind, daß sie keine Stunde ruhig auf dem Hintern sitzen bleiben können, es sei denn vor dem Fernseher oder im Restaurant, und überall wie aufgescheuchte Hühner herumflitzen und mit der tollsten Ausrüstung auf den abenteuerlichsten Gerätschaften Rennen fahren müssen. Besser sollte man diese Leute dazu anhalten, auch am Sonntag zu arbeiten. Sie könnten die übliche Leistung bringen, sich beweisen, was für tolle Kerle sie sind, und würden die Umwelt im Allgemeinen und den Camino im Besonderen nicht verpesten.
Hier irgendwo überschritt ich die Grenze zwischen dem baskischen Navarra und Rioja, deren Hauptstadt eben Logroño ist. Und weil die Rioja nie so bedeutend wie ihre Nachbarn Navarra, Kastilien und Aragon wurde und stets das blieb, was sie noch heute am besten ziert, nämlich der beste Weinberg Spaniens, ist auch ihre Hauptstadt kulturhistorisch nicht so reich wie vielleicht andere Städte des spanischen Nordens. Freilich wurde es auch mehrere Male zerstört, wie im Jahre 1092 durch El Cid, dem allseits populären Christenrecken, der zu dieser Zeit noch auf Seiten der Mauren den Sold verdiente. Da geht dann jedesmal eine Menge Kulturgeschichte verschütt. Doch ist in diesem Teil Europas fast alles kulturhistorisch wichtig, und auch hier gibt es einiges Sehenswertes, das andere Städte neidisch machen würde, so etwa die weit bekannte Steinbrücke über den Fluß Ebro. Immerhin reicht die Ortsgeschichte bis ins 1. Jahrhundert zurück. Davon aber merkte ich auf meinem Weg nicht viel. Statt dessen fiel mir auf, wie alles sauber und gut im Schuß ist. Auch die modernen Teile machten einen gewienerten, prosperierenden Eindruck, die Autos glänzten, die Menschen sahen wohlhabend aus. Der Jakobsweg führte mitten durch, durch das Alte und das Neue. Ich besuchte einige Kirchen, ein Café und kaufte ein, was gerade nötig war und nicht viel wog. Auf einem runden, mit Steinplatten belegten Platz stand eine Libanon-Zeder, mein Lieblingsbaum. Noch hatte sie nicht diese majestätische Größe wie etwa ihre Kollegin im Klosterkreuzgang von Moissac, aber in hundert, zweihundert Jahren wird sie alles hier in den Schatten stellen. Eine schöne Aussicht. Etwas Aufmunterung konnte ich brauchen, da ich heute recht lustlos dahin wanderte. Holländische Herbergsbesitzer und portugiesische Religionsfanatiker hätten große Freude an mir, denn ich fühlte mich nicht wohl. Nichts paßte mir, ich war müde und mau. Ausläufer einer Regenfront, die an der Küste in der Nacht mit gewaltigem Hagel vieles kaputt schlug, sorgten am Vormittag für kühles, graues Wetter, das am Nachmittag fast übergangslos von der üblichen Hitze abgelöst wurde. So fror ich am Vormittag und schwitzte am Nachmittag. Geduldig, ja geradezu demütig, wanderte ich durch das Gedränge aus Menschen und Autos, bis ich plötzlich wieder aus der Stadt hinaus war. Der unsichtbare Herr hielt den schützenden Arm über mir, so wurde ich weder überfahren noch tot getrampelt noch sonst in Versuchung geführt. Merkwürdigerweise störten mich die Massen in den Straßen weit weniger als die Sportler und Ausflügler draußen vor der Stadt. Diese verfolgten mich noch eine ganze Weile in farbigen Gummihosen, welche ihre körperlichen Mängel gut zur Geltung brachten, blieben jedoch nach dem letzten Freizeitgelände schlagartig aus. Dort verbrachte ich noch die Mittagspause zusammen mit dem spanisch-französischen Pärchen. Marcel klagte mit dem ihm eigenen entwaffnenden Lächeln und Schulterzucken, die ich an ihm so mochte, über die ewig schmerzenden Fußsohlen und die miese Kondition eines Büromenschen. Dabei aber wirkte er fröhlich und entspannt, wie ich wohl selten wirke, auch wenn ich fröhlich und entspannt bin.
Ich verließ beide mit dem Versprechen, für sie, wenn möglich, in der Herberge von Navarrete die Übernachtung zu sichern, damit sie sich nicht so sehr beeilen müssen. Das ging häufig ganz einfach, indem man den jeweiligen Namen ins Gästebuch schrieb, womit das eine Bett als belegt galt. Die Verwalter der kleineren kommunalen Herbergen kamen oft erst am Abend, um abzukassieren und die Pilgerbücher zu stempeln. Sie rissen sich kein Bein aus. Privatvermieter und religiös motivierte Ausländer kontrollierten freilich penibler, damit ihnen keiner durch die Lappen geht,
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