Bis ans Ende der Welt
Rand zum Rand wie ein Besoffener, der Kopf glühte und dröhnte, und ich spürte den Körper nicht mehr, auch wenn ich es versuchte. Zumindest nicht ganz so, wie es sich gehörte. Wenn ich mich nicht konzentrierte, sah ich um mich herum nur verschwommene Schatten. Darauf wollte ich aber achten, daß ich nicht vom Weg abkam und im Gebüsch landete. Ich hätte vermutlich nicht die Kraft gehabt, wieder herauszukommen. An den Stellen, wo der Camino die Nationalstraße kreuzte, wurde es besonders prekär, weil ich jedesmal vergaß, mich vor dem Überqueren umzusehen. Es passierte einmal, zweimal, dreimal. Jedesmal, wenn wieder mal ein Auto knapp vorbeifuhr, schimpfte ich mich meiner Dummheit und gelobte Besserung. Aber das nächste Mal trat ich wieder blind in die Fahrbahn. Einmal wirbelte mich der Sog eines Schwerlasters vollständig herum. In der Verwirrung marschierte ich hundert Meter zurück, bis ich den Irrtum merkte und umkehrte. Wieder an der Straße angelangt, vergaß ich erneut mich umzusehen.
Die Demut kehrte ein. Nichts ärgerte mich mehr, keine Radfahrer, keine Autos, keine Fremden, nicht einmal meine Schwachheit. Zwölf Stufen der Demut lehrt der heilige Benedikt. Auf der ersten ergebe man sich Gott und seinem Gebot und entsage der Begierde, auf der zweiten dem eigenen Willen, auf der dritten der freien Selbstbestimmung. Hier erreichte ich die vierte – Standhaftigkeit bis zum Aus. Hab festen Mut, und hoffe auf den Herrn! [78] Es war ein langer Weg durch Zeit und Raum von da, wo ich zum ersten Mal auf Demut stieß. Und sollte ich vielleicht auf dem Tugendpfad nicht weiterkommen, ich hatte seitdem irgendwie doch vier Stufen der Demut erklommen. Das kam recht unerwartet für mich. Von Natur aus bin ich aufbrausend, respektlos und rebellisch. Mein Favorit war stets der feste Wille, schon als Kind, ich schämte mich nie meiner Sturköpfigkeit. Aufzugeben, wenn ich mich im Recht wähnte, kam mir nie in den Kopf, egal wer der Gegner sein mochte. Bestenfalls war ich bereit, mich eines Besseren belehren zu lassen. Wer mich aber belehren wollte, brauchte gute Argumente, denn darin bin ich klug und listig. Jedenfalls bessere, als ich sie hatte. Und nun die vierte Stufe der Demut? Lächerlich bis erstaunlich. Und so kommt es mir eigentlich noch heute vor.
Dabei wäre in dieser Lage das einzig Vernünftige, ein Taxi zur nächster Klinik zu nehmen. Die wäre dann wohl in Santiago de Compostela, und die Pilgerschaft damit zu Ende. Andererseits ist das Marschieren mit Gepäck in Verbindung mit einer akuten Virusinfektion eine direkte Aufforderung an Herz, Lunge und Kreislauf zusammenzubrechen. Es konnte jede Sekunde passieren. Zack und vorbei. Bestenfalls noch ein kurzes Zappeln und Koma. Als Kind war ich herzkrank, war vom Sportunterricht befreit, und vor ein paar Jahren stellte man zufällig eine Verengung der Aorta fest. Und wie ich torkelte und schwankte, konnte ich auch noch in eine der kleinen Schluchten fallen, die es hier reichlich gab. In einer davon hielt gerade die Pilgerpolizei ihren Mittagsschlaf, ich hätte mich auf sie hinabstürzen können. Ich selbst war zum Gehen verurteilt, eine Mittagspause mußte ich mir verbeißen. Egal wie schwer mit das Gehen fiel. Ich wäre womöglich nicht mehr aufgestanden. Also ging ich weiter, einen Schritt nach dem anderen, da mehr als ein Schritt meist nicht möglich schien. Aber das kannte ich schon alles. Hart wie Kiesel sollte ich sein. Im Kopf fühlte ich mich klar und frei und überlegte mit aller Muße, ob denn der Herr mich nur deshalb hierher führte, um mich hier verenden zu lassen. Eigentlich habe ich mir sowieso nie vorstellen können, zuvor und während der ganzen Pilgerreise nicht, in Santiago anzukommen. Oder wie ich denn ankomme. Ich hatte einfach kein passendes Bild im Kopf dazu parat, sah mich nicht feierlich durch die Straßen gehen, in die Kathedrale eintreten und so weiter. Nichts. Kein Bild, keine Vorstellung, kein Vorgefühl. Alles dunkel, als ob da nichts mehr wäre. Und auch noch während der letzten Tage, als man schon die Kilometer zählte, und Simon meinte, nun könne wirklich nicht mehr viel schiefgehen, wehrte ich ab. Der Herr war einfach zu unberechenbar. Da tut man das Richtige und aus reinstem Herzen, und der Segen bleibt dennoch aus. Es gibt keine Garantie. Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut. Wenn nicht der Herr die Stadt bewacht, wacht der Wächter umsonst. [79] Ein Wallfahrtslied Salomos. Und so
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