Bis ans Ende der Welt
friedlich, verlassen und leer. Es gibt hier auf den letzten paar Kilometern einfach zu viele gute Herbergen, die um diese Zeit ihre Toren öffnen. Ich hatte noch zehn Kilometer bis Monte do Gozo zu gehen. Aber ich konnte mich darüber nicht freuen. Meine Füße schienen am Boden zu kleben, die Luft vor meiner Brust wollte nicht weichen, stand wie eine Mauer vor mir. Wo war denn der romantische Wald geblieben? Hier gab es nur Asphalt und Steine und Staub und Zäune, sogar einen riesigen, lärmenden Flughafen gab es zu überwinden, den man mir in den Weg stellte. Einen ganzen riesigen lärmenden Flughafen. Man bedenke nur die Mühe, die sich der Widersacher machte! Ungeheuerlich! Meine Sohlen spürte ich überhaupt nicht mehr. Wenn ich sie kratzte, kam ganz authentisch das kitzelnde Gefühl Tausender kleiner Nadeln, das mich zum Lachen reizte. Es kam mir seltsam vor, und ich probierte es mehrmals – immer mit demselben Resultat. Noch seltsamer: Die große Zehe rechts sah aus, als ob sie gebrochen wäre. Ganz komisch stand sie nach oben ab. Sie konnte doch nicht gebrochen sein, davon wüßte ich doch. Oder doch nicht? Vielleicht durch eine Art Materialermüdung? Ich wechselte auf dem letzten Stück noch in die Sandalen, spürte aber kaum was davon. Ich holte den Papierstreifen mit dem Jesaja-Spruch, den ich bei der Pilgersegnung in Le Puy auf den Weg bekam und seitdem in meiner Börse aufbewahrte: But the Lord God helps me; therefore I have not been disgraced; therefore I have set my face like a flint, and I know that I shall not be put to shame. [80] Es klang immer noch seltsam, doch irgendwie nicht mehr fremd. Lag es vielleicht an dem Englisch? J’ai rendu ma face dure comme un caillou, he puesto el rostro como una piedra, rendo la mia faccia dura come pietra, posui faciem meam ut petram durissimam. Irgendwie vermiste ich in den romanischen Sprachen den Kiesel. Ein simpler „harter Stein“ war mir nicht hart genug. Mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel! Das war’s!
Wenn es auf den letzten Kilometern dann auch noch bergauf ging, was ich fast schon persönlich nahm, ich erreichte Monte do Gozo zu guter Tageszeit. Drei polnische Riesenbusse standen mit laufenden Motoren auf dem Parkplatz. Sie standen wohl schon eine ganze Weile da, weil sie mich sonst auf der Straße hätten überholen müssen. Die Pilger saßen gelangweilt drin und gähnten mich an, die Busfahrer kochten auf dem Gehsteig gemütlich Kaffee und plauderten. Offenbar stellte man sich auf ein längeres Warten ein. Aggressiv geworden gegen alles, was sich drehte, Lärm und Gestank produzierte, fragte ich nun die Fahrer, warum sie nicht die Motoren abstellen würden. Wegen der laufenden Klimaanlage, erklärten sie freundlich. Ich schloß daraus, daß Polen ein sehr kaltes Land sein muß, wenn seine Einwohner bei kaum zwanzig Grad im Schatten noch eine Klimaanlage brauchen. Ich überließ sie dem Dieselgestank, der sie nicht störte, und zog weiter. Es sollte hier irgendwo das sagenhafte Compostela zu sehen sein. Laut Führer hieße Monte do Gozo „Berg der Freude“ wegen des Glücksgefühls, das die Pilger erfüllt, wenn sie nach all den Strapazen endlich das ersehnte Ziel erblickten. Der richtige Platz für diesen ultimativen Blick war wohl ein riesiges Kreuz neben dem Parkplatz. Doch mein Glücksgefühl hielt sich in Grenzen. Erstens war ich krank und völlig erschöpft, zweitens stank und dröhnte der polnische Diesel gar zu fürchterlich, und drittens konnte ich in der Ferne nur ein paar undeutliche Umrisse erkennen, die alles mögliche, den Hamburger Hafen mit eingeschlossen, hätten sein können. Nicht zu übersehen war dagegen ein riesiger Campus für einige tausend Schläfer direkt zu meinen Füßen. Schlafbaracken vom Feinsten. Angeblich geht der gigantische Bau auf einen Besuch des polnischen Papstes Wojtyla zurück. Das war mir aber ziemlich gleich. Da unten gab es Duschen und Betten in großer Zahl! Wahrhaft ein Grund zum Freuen.
Also steuerte ich guter Hoffnung wieder an den polnischen Stinkern vorbei die Treppe hinunter zur Rezeption. Dort flog gerade einer, der kein Pilgerbuch hatte, hinaus. Spanische Stränge, gestützt auf zwei martialische Pilgerpolizisten in Schwarz, jeweils mit dicker Schußweste, Maschinenpistole und anderen Utensilien eines Robocop . Offenbar rechnete man hier mit dem Schlimmsten. Während der Mann aus Osteuropa draußen ein wenig krakeelte, was jedoch die Robocop’s völlig kalt ließ, bekam ich
Weitere Kostenlose Bücher