Bis ans Ende der Welt
Fisch und wachte erst nach sieben Tagen auf dem Gang eines Krankenhauses auf, wo ich offenbar die ganze Zeit ohne besondere Behandlung lag. Alles war voll, und man wollte mich gar nicht aufnehmen, bis ich einfach vor der Tür umfiel. Tot war ich also nicht. Hätte es aber auch sein können. Zumindest hätte es mich nicht sehr überrascht. Ich krabbelte vorsichtig unter dem Deckenhaufen ins kalte Freie hinaus. Keiner da. Keine Pilger, kein Personal, niemand. Kein Laut. Die Uhr zeigte zehn Uhr. Aber welcher Tag war es? Ich entzifferte das Datum auf dem Ziffernblatt und stellte fest, achtzehn Stunden geschlafen zu haben. Ob dazwischen noch andere Pilger kamen, lärmten, mit Tüten raschelten, Sachen fallen ließen, schnarchten — ich habe nichts bemerkt. In einem Moment gestern machte ich die Augen zu und in einem anderen heute wieder auf. Und dazwischen lag nichts, wovon ich berichten könnte. Geheilt war ich allerdings nicht. In meinem Kopf rauschte es, und ich ging immer noch wie auf Wölkchen. Ich duschte, rasierte mich und bereitete mir in der Küche einen heißen Tee zu. Nur essen konnte ich immer noch nichts. Zu einem Keks mit Käse zwang ich mich, mehr war nicht drin. Die Kekse bekam ich von einer älteren Deutschen, die den Camino del Norte , die Nordroute an der Biscaya Küste ging. Hier, kurz vor dem Ziel, treffen die beiden Wege aufeinander. „Hart, sehr einsam, kein Mensch weit und breit,“ erzählte sie. Ich beneidete sie, und sie gab mir dafür die Kekse.
Heute hatte ich noch dreißig Kilometer zu gehen. Ich war sehr spät dran und noch ziemlich schwach auf den Beinen. Doch schaffte ich diese dreißig Kilometer, konnte ich wie geplant morgen, am heiligen Sonntag, in der Kathedrale von Santiago das Hochamt feiern. Es schien jetzt wieder alles möglich, wo es mir schon viel besser ging. Besser war vielleicht nicht gut genug, aber ich war wieder im Rennen. Ich schritt rasch und zügig aus. Die Sonne schien, ich konnte die Natur bewundern. Gleich hinter Arzúa erstreckte sich wieder so ein verwunschener Wald, wie schon gestern und vorgestern, mit romantischen Hohlwegen unter knorrigen, uralten Eichen, derben Ahornen, schlanken, halbnackten Eukalyptusbäumen. In den Kronen hüpften die Sonnenstrahlen wie tausend flüsternde Engel. Das zitternde Licht fuhr auf schrägen, geraden Bahnen ins dunkle Unterholz, traf, leuchtete auf, wabbelte, verlosch. Es entblößte das Geheimnis nicht, sondern wies nur drauf hin. Dort auf dem Boden flüsterten gefallene Blätter verworrene Geschichten von Glanz und Schatten. Hier hatte man seine Sinne im Zaum zu halten, damit sie nicht in den Wald laufen und nimmer wiederkehren. So ging der allwissende Herr dann lieber eine Weile mit, doch blieb er bald an einem hohen, steinernen Kreuz hängen, wie er so häufig tat, still und leise, grußlos, daß ich es gar nicht merkte, zumindest nicht sogleich, wenn er abblieb. Ich war auf sein Kommen und Gehen schon zu gewöhnt, als mir darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Ich überlegte statt dessen, wie lange ich das hier im Gedächtnis werde behalten können. Wenn ich mir vorstellte, wie es nach und nach langsam verblassen würde, bis nichts mehr als ein diffuser Brei übrigblieb, wurde mir traurig zumute. Wäre das Leben weniger lebenswert, wenn man es komplett damit verbrachte, in einer Zeitschleife, wieder und wieder, durch diesen verwunschenen Wald zu gehen?
Ich ging, ohne anzuhalten. Von Wegweiser zu Wegweiser, von Grenzstein zu Grenzstein. Hart wie ein Kiesel. Nicht die kleinste Pause machte ich. Der Körper verlangte weder Essen noch Trinken. Zweiundzwanzig Kilometer ging ich so. Als ob nicht ich selbst, sondern ein anderer an meiner statt ginge. Ich war nur der Zuschauer. Wie im Kino. Charlie Chaplin geht dahin und schwingt den Spazierstock. Welche Gefühle hat man dabei?
Am Anfang war ich noch allein, doch je weiter ich kam, um so mehr Menschen überholte ich. Vor mir Pilger, hinter mir Pilger. Dazwischen haufenweise Radfahrer, die sich jubelnd durch das Fußvolk drängten. Es gab hier Abfallkörbe, alle voll. Wo es keine gab, lag der Dreck am Wegrand. Nirgends eine Sitzgelegenheit, keine Bank, kein Baumstamm. Wer würde denn auch sitzen bleiben wollen? So nah am Ziel? So ging ich immer weiter, obwohl ich längst jeden Schwung verlor. Dann, am Nachmittag, war plötzlich niemand mehr da. Wie mit dem Zauberpilgerstab auf den Boden geklopft. Alle verschwunden. Keine Pilger, keine Radfahrer, keine Einheimischen, alles
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