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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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den Platz an dem einzigen Tisch mit irgendwelchen osteuropäischen Ellenbogenmenschen streiten. Es war nicht das, was ich mir vom Abend versprach, und der Trost, anderen ein wenig geholfen zu haben, war mir als Belohnung nicht genug. Ich ging früh schlafen, doch war es sehr unruhig in dem riesigen Schlafsaal, bis alle Geschichten zu Ende erzählt, reichlich Sachen hinuntergefallen, genug herumgelaufen, mit Plastiktüten geraschelt wurde und endlich, endlich Ruhe herrschte. Es dauerte Stunden.
    In der Nacht wachte ich plötzlich krank auf und verbrachte die meiste Zeit, wo die Unruhestifter von zuvor den Schlaf der Gerechten zelebrierten, auf der Toilette. Ich hatte Durchfall, hohes Fieber, starken Schüttelfrost und fühlte mich elendig schwach. Es sah nach einer Infektion und somit gar nicht gut aus. Ausgerechnet jetzt, noch kurz vor dem Ziel, drohte ich zu stranden. Vom Essen konnte es aber nicht kommen. Simon schlief ein paar Betten weiter ruhig und tief, offenbar nicht krank. Vielleicht war es der Apfelsaft in der Bar unterwegs oder eine Virusübertragung durch Körperkontakt. Aber letztlich war es ganz gleich, wie ich in diese Misere geriet. Ich saß drin. Vielleicht hat es dem Herrn gefallen, mir noch ein wenig mehr aufzuladen, weil ich gestern vor Simon prahlte, nach dreieinhalb Monaten durch Dreck und Staub wohl gegen alle Bazillen immun zu sein. Oder die Bazillen gingen am Herrn einfach vorbei und fraßen – Christ oder Heide – alle auf. Hier, auf der futuristischen Toilette war der Herr jedenfalls nicht, um mir Rat und Trost zu spenden. Er war wieder sonstwo unterwegs und ließ sich nicht in die Karten sehen. Warum sollte er auch? Ich überlegte, daß die Beziehung zwischen Mensch und Gott so ähnlich sein könnte wie zwischen Hund und Mensch. Der Hund ist glücklich, wenn ihm das Herrchen Bälle wirft, mit ihm spazieren geht und ihm den Futternapf hinstellt, und der Mensch tut es, um dem Hund eine Freude zu machen. Aber letztendlich hat er ganz andere Sorgen und Motive, als ständig seinen Hund zu erquicken. Für den Hund mag das Herrchen alles sein, doch umgekehrt ist der Hund nur ein Hund. Ich konnte mich immerhin trösten, daß der Herr mit mir spazieren geht und mir Bälle zuwirft, was eigentlich gar nicht so selbstverständlich ist. Und jetzt war ich eben krank und hatte trotzdem noch Tage zu laufen.
    Das Beste, was ich in dieser mißlichen Lage tun konnte, war, möglichst früh aufzubrechen. Wer wußte schon, wie sich die Krankheit noch entwickeln würde. Vorläufig konnte ich noch auf den Beinen stehen. Ich brach also früh auf und kam nach anderthalb Kilometern noch relativ rüstig in Palais de Rei an. Da flitzten schon überall Pilger geschäftig hin und her, als ob sie zur Arbeit aufbrechen würden. Vor einem kleinen Hotel traf ich zum letzten Mal die rheinländische Walküre. Sie schritt die Straße auf und ab wie eine Löwin, rauchte nervös und sprach heftig ins Mobiltelefon. Offenbar wusch sie jemanden den Kopf, der seinen Hausaufgaben nicht gerecht wurde. Ein persönliches Gespräch, zu dem ich unpassend kam, und dem ich nicht folgen wollte, auch wenn es lautstark publik geführt wurde. Sie sah mich nicht oder wollte mich nicht sehen, was mir nur recht sein konnte. Zumindest schien ihr Knie wieder in Ordnung zu sein, der Schritt kam satt und elastisch aus dem Sprunggelenk. Schön für sie, doch kam die Besserung bestimmt nicht vom Laufen. Ich nahm an, daß ihr Freund mit dem Leihwagen folgte, das große Gepäck transportierte und ihr notfalls zu Hilfe kam, wenn ihr das Gehen schwer wurde. Sie hatte ihr transzendierendes Erlebnis, er mehr Zeit zu telefonieren. Der Herr sorgt für uns alle, zumindest lädt er uns nicht mehr auf, als was wir tragen können.
    Dieser Gedanke machte mir wieder Mut, und ich ließ alle ketzerischen Überlegungen zum Hund und Mensch sausen und überließ mich dem Willen des Herrn, der mich doch bis hierher sicher geführt hat. Das war eine Tatsache und besser als dumme Spekulationen. Und wollte er mir doch so kurz vor dem Ziel lange Nase zeigen, so war es seine Sache, ich habe mein Bestes gegeben. Ich wollte aber doch lieber nicht an die Kreuze für die gefallenen Pilger denken. Es kam mir vor, sie seien häufiger. Hier hieß es, körperliches Mißbehagen abzuschalten, den Gang einzulegen und nicht an die sieben, acht Gehstunden vor mir zu denken. Nur dumm, daß ich bald nicht mehr geradeaus gehen und sehen konnte. Ich torkelte auf dem relativ breiten Weg vom

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