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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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vor. Die junge Frau schüttelte nur den Kopf vor so viel Dummheit und provinzieller Rückständigkeit. Sie lebe in Spanien, nicht auf dem Mond, meinte sie im echt spanischen Stolz. In der Tat. Es gab inzwischen jede Menge mehr Straßen und Autoverkehr, die Städte waren schmuck und sauber, den radfahrenden Schwulen stand es frei, ihre Symbole aufgebläht am Rücken zu tragen, und ich blieb keinen einzigen Tag ohne eine ordentliche Dusche. Also gab ich der Jungfer recht, was sie mit stiller Genugtuung und ohne weiteren Groll hinnahm. Eigentlich mochte ich die Menschen hier. Und sie nahm versöhnlich die Fernbedienung und schaltete auf einen anderen Sender um, und nun brüllten und heulten aus dem Lautsprecher Tausende Irre zum Fußballspiel. Das heißt, nicht alle. Manche schonten die Kehle und ließen statt dessen leistungsvolle Drucklufthupen für sich sprechen. Es war recht so. Die Demut holte mich wieder ein.
    Ich trieb mich nicht zu lange auf dem fast leeren Campus herum. Es lohnte sich nicht. Noch trostloser war es in der Baracke, wo inzwischen in der Küche die schwerbewaffnete Pilgerpolizei ihr Lager aufschlug. Ein Terroranschlag stand wohl unmittelbar bevor. Es störte mich nicht, ich brauchte keine Küche. Ich hatte keinen Hunger, keinen Durst, der Körper begehrte nichts. Die Schlafkammer stand leer, alle Mitbewohner trieben sich irgendwo herum. Ich hätte unangefochten wie ein König auf dem einzig vorhandenen Stuhl sitzen können und die Beine üppig über die ganze Gangbreite ausstrecken können. Aber ich ließ mich auf diese sadomasochistische Tat nicht ein. Statt dessen kroch ich in den Schlafsack und verlor mich im Schlaf völlig ungestört.

Santiago de Compostela, km 2954
    Um vier Uhr früh wachte ich auf. Jemand schoß direkt vor dem Fenster, das heißt, nicht mehr als einige wenige Meter von meinem Kopf entfernt, sechsmal rasch hintereinander aus der Schrotflinte. Dann herrschte wieder Stille. Allerdings nur draußen. Innen schnarchten mehrere Leute entschlossen um die Wette. Am übelsten wüteten zwei noch relativ junge Frauen aus Slowenien. Am Nachmittag machten sie auf mich noch einen harmlosen Eindruck. Die eine war recht bemerkenswert, da etwa 156 Zentimeter klein, vielleicht nicht eben fett, doch dem Körpermaß nach einem Rugbyball fast gleich. Seitenverhältnis eins zu drei. Es fehlte nur die breite Naht an der Seite, die ein jeder Rugbyball haben muß. Ich hatte einige Mühe, das penetrante Bild der keltischen Venus von Unterwisternitz aus dem Kopf zu kriegen. Es versuchte sich dort dauerhaft einzunisten, und ich war ja auf dem Tugendpfad der Demut. Diese zarte Person aber produzierte ein ausgesprochen rabiates, tief vibrierendes Knurren wie das von einem abgerichteten, auf Böses sinnenden Schäferhund. Ihre Begleiterin, deren Maße weniger extrem waren und mir deshalb nicht im Gedächtnis blieben, sog in nervigen Intervallen je einen langen, stöhnenden, herzreißenden Verzweiflungsseufzer ein. Wie eine Ertrunkene, die man ans Ufer zog und nun durch Mund-zu-Mund-Beatmung und dralle Rippenstöße wieder zurück ins Leben holte. Nach ein paar Sekunden Stille folgte dann auch noch ein echt sumpfiges Gluckern und Plätschern à la Dartmoor im Herbstnebel frei nach Sir Arthur Conan Doyle. Dazu sägten zwei, drei Piefkes willig und beharrlich an soliden deutschen Eichenstämmen. Phantasielose Langweiler, doch boten sie immerhin eine stabile akustische Basis für die slowenischen Solistinnen. Die Sequenz schloß dann mit einem leisen, doch gut fühlbaren „Puff!“ vom Lager unter mir ab. Wie eine gute alte Dampflok am Ende des Bahnsteigs, der Abfahrt harrend. Niemand von den Besagten ließ sich auch nur im geringsten von der Knallerei draußen an ihrem Tun hindern. Nur ich wurde wach, bin eben ein nervöser, aufsässiger Typ. In bester Absicht wollte ich mich nun aus dem Zimmer schleichen, doch brachte ich beim Hinunterklettern von dem Etagenbett das wacklige Gestell fast zum Einsturz und trat dem unter mir liegenden Schnarcher auf den Arm. Keinerlei Reaktion. Die Zahnräder griffen, die Kolben schoben, der Wirbel wirbelte — die Dampflok puffte langsam und präzise weiter. Unnötig leise, da schulbewußt, schlich ich in den Gang und ab da nun etwas freier in Richtung Toilette. Durch die angelehnte Küchentür sah ich auf einem Stuhl den Pilgerpolizisten mit ausgestreckten Armen und dem Oberkörper auf der Tischplatte ruhen. Er schlief — ungerührt von den Schüssen draußen und den etwa

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