Bis ans Ende der Welt
freundlich und rasch ein Bett zugeteilt. Auch ein süßes Bonbon und ein Frauenlächeln. Schließlich waren meine Credenciales ja geradezu adlig. Den ganzen langen Weg — in einem Stück, mit allen Stempeln, Abnützungsspuren und einem echten Leiden im Gesicht. Das galt hier was. Ich habe mir das Recht auf ein Bett hart und ehrlich verdient. Es hätte deshalb laut Führer für die eine Nacht gar gratis sein sollen, dennoch gab es nun plötzlich drei Euro zu löhnen. Angeblich für die neu eingeführte Kurtaxe. Versprochen ist versprochen, dachte ich bitter, die drei Euro konnte ich mir allerdings dank der verkauften Aktien noch leisten. Dafür bekam man das übliche Quartiermaß von je ein Stockbett je ein Quadratmeter Zimmergrundfläche. Auf dem Zimmer traf ich Simon, der kurz vor mir ankam, und später in der Dusche dann den gerade hinausbeförderten Ostler, der sich dreist an der Polizei vorbei in die Schlafbaracke schlich und da nun seine dreckigen Stiefel im Waschbecken wusch und sonstige „Hygiene“ machte. Später sah ich ihn noch einmal draußen, wo er keck und rotzig Mädchen anzubaggern versuchte. Ziemlich erfolglos, wie ich nicht ganz ohne Schadenfreude feststellte.
Nach den üblichen Pflichtaufgaben wie Duschen und Kleiderwaschen, die ich nun seit Monaten jeden Abend machte, und die ich deshalb kaum noch bewußt wahrnahm, brauchte ich etwas Ruhe und Abstand, die es auf dem inzwischen übervollen Zimmer leider nicht gab. Alle, Simon mit eingeschlossen, bereiteten sich psychisch und physisch intensiv auf die morgige Ankunft in Compostela vor und machten dabei wie bei solchen Anlässen üblich jede Menge Streß. Es lag so eine nervöse Stimmung in der Luft. Simon lehnte es sogar ab, daß wir am Morgen zusammen gingen. Nein, den Einzug in die Stadt des Apostels Jakob wolle er ganz bewußt erleben, dazu müsse er allein marschieren. Etwas beleidig wegen der Zurückweisung dachte ich darüber eine Weile nach, fand es jedoch am Ende richtig. Warum sollte man sich etwas, wofür man sich so weit aus dem Fenster lehnen mußte, mit zufälliger Gesellschaft und seichtem Gespräch verwässern? Das hier, von der investierten Mühe ganz abgesehen, war möglicherweise das wichtigste Moment in seinem bisherigen Dasein als eigenständige Persönlichkeit. Diesen wichtigen Augenblick wollte er rein und unversehrt im Gedächtnis behalten. Und das galt natürlich auch für mich persönlich. Auch ich wollte nun ganz allein, ohne jegliche Ablenkung und auf das langersehnte Ereignis höchst konzentriert das offizielle Ende der Pilgerschaft wahrnehmen. Und deshalb wollte ich morgen bewußt erst ganz spät aufbrechen, damit alle anderen garantiert schon längst auf dem Weg waren und mich bei meinem Gang nicht störten.
Damit brach ich zur Besichtigung der Schlafstadt auf. Zum Schlafen war es noch zu früh, zumindest war es dem Körper noch nicht danach, ebenso wie es hartnäckig immer noch die Nahrung verweigerte. Auch recht. Wenn der Körper nichts essen wollte, sollte es dem Geist gleich sein. Statt dessen wollte er sich mit der Frage beschäftigen, ob das hier — nach dreieinhalb Monaten unsäglicher Strapazen — immer noch einen Sinn ergab. Oder zumindest die Hälfte von dem, was noch am Anfang sinnvoll schien. Wobei ich mir immer noch nicht sicher war, ob der Herr die Sache nicht anders regeln möchte. Ihm traute ich inzwischen einfach alles zu. Das klingt wohl wieder etwas ketzerisch, doch ich selbst deutete es als ein Glaubenszeichen. Es waren zwar nur noch fünf Kilometer bis zum Stadtzentrum, aber ich war mir meiner Sache immer noch nicht sicher. Nein, der Herr hat noch immer nicht seinen Segen gegeben, hat mir noch nichts endgültig zugesagt. Ich war noch immer nicht angekommen, immer noch konnte ich scheitern. Und immer noch konnte ich mir die Ankunft überhaupt nicht vorstellen.
So landete ich mit dem Kopf voller Gedanken in einem fast leeren Café auf dem zentralen Platz des Pilgerdorfes, wo ich zunächst nur Cola trank und am Tagebuch schrieb und mich dann über den Krach aus dem laufenden Fernsehen ärgerte. Als ich deswegen maulte, wollte die Bedienung tatsächlich wissen, ob ich die spanische Musik nicht möge. Spanische Musik? Dieses Devischenheulen zu Pauken und Trompeten, das die Jerichomauer nicht nur einstürzen, sondern gleich zu Staub zerfallen ließe? Unter spanischer Musik stellte ich mir — altmodisch wie ich eben bin — etwas Melodisches, Rhythmisches, Romantisches mit Gitarre und Kastagnetten
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