Bis ans Ende der Welt
Bierranzen in den Lappen und erzählte jedem, der es hören wollte, er trinke auf dem Camino nur Wasser und gehe morgen wieder zu Fuß nach Deutschland zurück. Es klang nicht allzu glaubwürdig, und der Raum leerte sich schnell. Auch ich ging.
Ich hatte keine gute Nacht, sie hätte aber auch schlechter sein können. Mehrmals wachte ich auf und irrte durch die großen Räume zur Toilette. Alle schliefen ruhig und glückselig den Schlaf der Gerechten. Ich gönnte ihnen den unbeschwerten Schlaf, auch wenn ich selbst nicht so glücklich war. Meine Krankheit war wieder da. Sie trat ja nur für den einen, den so wichtigen Tag zurück. Ich verstand es und war nicht enttäuscht. An diesem Tag konnte ich einfach nicht krank sein. Wofür wäre der Herr denn so lange mitgegangen? Damit am Ende alles einfach so verpufft, sich in der Luft auflöst? Vielleicht hatte ich auch den Organismus so im Griff, daß ich für einen Tag die Krankheit aufhalten konnte. Eine Art psychosomatische Krücke. So etwas ist durchaus denkbar und mehrfach belegt. Wie auch immer, das Ergebnis war gleich. Ich habe meinen großen Tag der Ankunft in Santiago gehabt. Wenn ich jetzt den Preis dafür zahlen sollte, war es das wert. Es machte mir nichts aus.
Negreira, km 2977
Mein Gelübde war hier erfüllt, der Pilgerweg aber noch nicht zu Ende. Als Kultpfad war er viel älter als die Christenheit. Nur, daß nicht Santiago de Compostela, sondern Cap Finisterre das Pilgerziel war. Das Apostelgrab wurde erst im Jahre 812 entdeckt. Der Name Compostela geht am ehesten auf das lateinische Compositum , Begräbnisplatz, zurück und weist auf eine zu dieser Zeit längst existente Kultstätte hin. Heilige Orte entfalten ihre Wirkung durch Zeit und Raum hindurch, wobei die jeweiligen Zeitgenossen dann ihre eigene Legende dazu basteln. Man möchte nur eine der noch erhaltenen keltischen oder anderen vorchristlichen Kultstätten aufsuchen und dort auch nur eine einzige Stunde allein verbringen. Also dachte ich, wie viele andere vor mir schon, den eigentlichen Pilgerweg bis zu dem einzigartigen Felsen von Finisterre zu verlängern, um den ganzen verfügbaren mystischen Grund auszuloten. Was freilich weitere etwa hundert Kilometer zu gehen bedeutete.
Hierzu mußte ich erst wieder zur Kathedrale. Wenn man von diesem universellen Punkt durch die richtige Gasse nach Westen bergab geht, stößt man nach einer Weile auf den ersten Wegweiser nach Finisterre. Ihn gleich auf dem Platz vor der Kathedrale anzubringen, wäre wohl etwas ketzerisch. Das mußte sogar ich zugeben. Immerhin gibt es die Wegweiser, sogar mit dem selben Sternzeichen wie der Camino versehen. Für mich hieß es, noch einmal in die Stadt einzuziehen. Und ich war sehr gespannt, ob die Wirkung etwa dieselbe sein würde. War sie nicht. Es fehlte jede Feierlichkeit, es fehlte die Ruhe und die Einkehr. Die Straßen waren mit hastenden Berufsmenschen gefüllt, Autos hupten, Motoren heulten, Preßlufthämmer schlugen. Dazwischen sah ich ein bürgerliches Ehepaar im feinsten Rock, allen und allem im Weg, bummeln gehen. Reiche englische Touristen. Die kostbare Stimmung des Vortags fehlte. Wo ist sie denn hin, müßte sie nicht immer da sein, wie ein Gefäß, aus dem man jederzeit schöpfen kann? Dabei fing der Tag gut an. Als ich nach sieben Uhr beim Frühstück aus dem Fenster des Refektoriums sah, stand auf blauem Hintergrund ein riesenhafter gelber Mond über der Stadt, als ob er drauf fallen wollte. Ein letzter Stern folgte ihm im Abstand. Das hielt ich für ein gutes Zeichen, weil jede Schönheit vom Herrn kommt.
Ein Abschiedsgebet in der Kathedrale hielt mich nicht lange auf. Der silberne Apostel saß kalt, starr und teilnahmslos auf seinem silbernen Thron. Überall fehlte was vom Vortag. Und ich war nicht mehr so konzentriert, war schon mit einem Bein auf dem Weg. So fand ich erst richtig zu mir, als ich endlich die Treppe vor Hostal de los Reyes Católicos in westlicher Richtung hinabstieg. Ich war wieder auf dem Pilgerpfad. Da liegt eine gewisse Sehnsucht darin, und ich fühlte den Raum vor mir, wie ich den bereits durchschrittenen Raum hinter mir fühlte. Ein gewaltiger Bogen. Ich war frei wie eine Seeschwalbe im Wind über der Klippe schwebend. Aber diese Kraft hielt nicht lange vor. Schon bald spürte ich, wie eine bleierne Schwäche durch die Glieder aufsteigt und sich überall breitmacht. Das Fieber kam zurück. Ich glühte. Bereits um elf Uhr wollte ich eine Mittagspause abhalten, in der Hoffnung,
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