Bis ans Ende der Welt
plötzlich her? Ich drängte durch die Menge und ertrug den Schimpf über jene, „die nicht wie alle anderen warten können und sich unbedingt vordrängen müssen“. Aber es waren nicht alle so. Manche standen still und in sich gekehrt, als ob es die vielen Menschen um sie nicht gäbe. Richtige Pilger. Vom Herrn berührt. Offenbar trieb er sich hier herum und tat sein wundersames Werk.
Am Ende erwies sich das Priesterseminar als genau richtig. Es ist riesig, umfaßt insgesamt über einundfünfzigtausend Quadratmeter, der festungsartige Hauskomplex allein etwa zwanzigtausend Quadratmeter. Es liegt auf einem lichten Hügelrücken direkt gegenüber der Altstadt, von der es durch eine tiefe, zum Park umgestaltete Schlucht getrennt wird. Noch im Jahre 1956 beherbergte es fast zwölfhundert Theologiestudenten. Wie mächtig muß einst die katholische Kirche in Spanien gewesen sein. Heute freilich ist es hier wie überall sonst. Keiner will mehr Priester werden. Oder zumindest nicht viele, nicht genug. In den Medien heißt es, wegen des Zölibats. Man möchte doch nur die sexuelle Enthaltsamkeit abschaffen oder wenigstens die Frauen als Seelsorger zulassen, und alles werde wieder gut. Ein Schmarren. Es ist der Zeitgeist, die schrille libertine Fanfare, die eifrig von den allmächtigen, allgegenwärtigen Medien bis zu dem abgelegensten Winkel der Erde verbreitet wird: „Laßt euch nichts verbieten, lebt es frei aus. Kauft, kauft, kauft!“ Wer möchte da noch ein verklemmter Priester werden? Außer, so gaukeln uns die Medien vor, man ist eine Frau, ein Schwuler oder liebt die Knaben. Doch solche Gedanken lagen mir da fern, denn die Krankheit kehrte zu mir zurück, und mir gingen die Kräfte aus. Ich konnte mich kaum mehr an den Beinen halten, als ich an der Rezeption die Formalitäten erledigte. Ich schaffte es gerade bis zu dem mir zugewiesenen Schlafsaal, fiel in das erstbeste Bett und schlief trotz des lauten Geschwätzes von ein paar deutschen Frauen erst mal drei Stunden tief durch. Erst dann war ich fit genug, die Sicht aus dem Fenster des großen Aufenthaltraumes in mich aufzunehmen. Vor mir, auf dem anderen Hügel, lag die Stadt in lauwarmer Brise, eine Feste aus Mauern, Dächern und Türmen, getauft und gekrönt vom weichen, hellblauen Licht des galicischen Himmels. Dann versank die Sonne, der Himmel verglühte, die Sterne stiegen auf. Ein Ort wie aus einem Märchen. Morgen schon sollte ich wieder Abschied nehmen, und diese endliche Zeit am Fenster schien mir so kostbar zu fließen, wie die letzten Minuten eines ablaufenden Lebens. Dies ist die Stunde einer eigentlichen Ankunft in Compostela, einer Einkehr, die sich aus Träumen zusammenwebt. Santiago bleibt immer eine Begegnung mit Träumen, eine geträumte Begegnung. Man hat die Stadt lange zuvor in sich geahnt oder erfahren und findet nun die Vision erfüllt. [82] Und ich dachte an eine gleich erstaunliche Sicht aus dem Fenster meiner Unterkunft hoch über Le Puy . Das lag schon Monate zurück. Monate, die damals noch leer vor mir und nun ausgefühlt hinter mir standen. Und Menschen. Elisabeth, Joanna, die alte Frau aus der Schweiz mit ihrer siebenjährigen Nichte, François aus Kanada und all die andren, die mit mir gingen und in mein Herz eingingen. Vor allem Elisabeth, Sissi, mon cher ami de saint Jacques . Sie hätte ich heute gerne an meiner Seite gehabt, mit ihr wäre der harte Weg durch Spanien, Camino duro , gewiß nicht so hart und bitter, wie ich ihn ertragen mußte. Da ich sie aber stets im Herzen trug, war sie auch jetzt bei mir. Alle waren sie mit dabei, so echt und lebendig, daß ich sie fast hätte greifen können. Meine Ankunft in Santiago war eine solche, die ich mir gewünscht hätte, hätte ich mir sie wünschen können, und wäre ich auf den Gedanken gekommen, mir eine zu wünschen. Sanft und still, demütig herb.
Kostbare Zeit, die aber zu Ende ging, als ein fetter deutscher Landstreicher den Fernseher entdeckte und uns allen im Refektorium den Fußball bescherte. Inzwischen hat sich nämlich die zunächst noch leere Herberge mit Gästen gefüllt, die freilich auch ihr Eigenleben entfalteten. Es passen hundertsiebzig hinein, und das ist wirklich eine ganze Menge. Die meisten waren wohl noch in der Stadt unterwegs, die hier anwesenden aber still und in sich gekehrt und störten kaum. Bis auf diesen vorlauten Menschen, der bei der Ankunft in der Apostelstadt den Fußball am interessantesten fand. Nun saß er zufrieden da, hielt seinen
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