Bis ans Ende der Welt
mich in einer Stunde wieder auf den Weg machen zu können. Nur etwas ausruhen, dann müßte es wieder gehen. Eine alte Kirche, ein steinernes Kreuz dahinter, ein kleiner Park an der Friedhofsmauer – der Platz war gar zu verführerisch. Vielleicht ein wenig zu gepflegt, zu zivilisiert für einen abgerissenen, kranken Pilger. Ich wollte mich auch dementsprechend würdig benehmen, zumal immer wieder Leute kamen, bald Pilger, bald Kirchenbesucher. Aber es dauerte nicht lange, und ich lag flach und halb bewußtlos auf der Bank. Essen konnte ich nichts, obwohl ich welches hatte. Das einzige, was ich noch ertrug, war Coca Cola. Eine Flasche zog ich zuvor aus dem Automaten direkt am Weg. Spanien war ja mit Automaten aller Art geradezu übersät. Ich wachte Stunden später auf, vermutlich deshalb, weil es anfing zu regnen. Dennoch war ich eine ganze Weile nicht fähig mich aufzurichten und sah teilnahmslos zu, als andere Pilger frisch und munter vorbeizogen. Meist sahen sie strafend zu mir hinauf, und ein-, zweimal vernahm ich etwas über Leute, die nicht wüßten, wie man sich zu benehmen hat. Sprache: Deutsch. Mein Herz raste, zeitweilig sah ich doppelt oder verschwommen, der Kopf drohte zu platzen. Irgendwie stand es nicht gut um mich, und ich überlegte, jemanden vielleicht um Hilfe zu bitten. Dann aber schien mir, daß dieser Platz zum Sterben gerade richtig war. Eines toten Pilgers ebenwürdig. Dennoch hatte ich dann doch keine Geduld, um hier auf den Tod zu warten. Zumal der bis dahin kaum fühlbare Regen etwas dichter wurde. Ich rappelte mich endlich hoch und absolvierte den Rest der Tagesetappe mit etwas mehr Würde. Sie war ja mit vierundzwanzig Kilometer relativ kurz. Ich konnte sogar Gefallen an der grünen galicischen Landschaft finden.
Harte Tage sind hart nicht nur in einer Hinsicht, alles Mögliche und Unmögliche geht da schief. Der Widersacher schleicht herum, stiftet Chaos und Verwirrung. Als ich gerade wieder Schritt faßte und mich geistig gegen die Widerwertigkeiten des Materiellen rüstete, da kam mir ein Auto entgegen. Ich ging auf der rechten Straßenseite und war gerade dabei, eine Einmündung zu überqueren. Da machte der Fahrer kehrt und fing an, mich auf dieser ungeschützten Stelle mit dem Wagen zu jagen. Ich mußte ums Leben rennen, was den Täter vielleicht belustigte, so daß er noch eine zweite Runde dazulegte. Wütend schleuderte ich ihm den Pilgerstab nach, das schwache Ding aber war nicht dazu geeignet, Schaden anzurichten. Ein massiver Stock von der Art, wie ihn Sissy in Le Puy gekauft hat, wäre da gewiß wirksamer, um ein paar Beulen im Lack zu machen, hätte mich aber auch nicht vor Überfahren gerettet. Einige Hundert Meter weiter traf ich Rachel aus Costa Rica . Sie saß neben der Landstraße vor einem Kuhgatter im Gras, denn eine Sitzgelegenheit wie gesagt gab es hier nirgends. Ich setzte mich dazu. Wir plauderten, und zu meiner Überraschung erzählte sie, sie habe das Gefühl, daß die Galicier uns Pilger nicht besonders mögen. Da erzählte ich ihr von dem Vorfall, was ich zunächst gar nicht vorhatte, weil die einen – meist deutschsprachige Proleten — hier so erpicht darauf waren, daß alles auf dem Camino so wunderbar ist und nicht besser sein kann, und die anderen – meist englische oder holländische Protestanten — das Leiden als Bereicherung, ja gar die Quintessenz der Pilgerschaft lobten. Bei beiden, und sie hatten hier die absolute Mehrheit, mußte man sich mit jeder Kritik, egal, ob berechtigt oder unberechtigt, egal, was sie betraf, sehr in acht nehmen. Die Reaktionen konnten sehr heftig ausfallen. Schon am nächsten Morgen dürfte ich mich davon wieder überzeugen, als ich mich bei einem Bekannten aus Saarbrücken über die Schwätzsucht der Spanier beschwerte. Wir saßen gerade am Frühstückstisch, und ich, von der Krankheit noch fix & fertig, litt wie ein Hund an dem nimmerendenden leeren Geschwätz der Nachbarn und meinte ironisch zu meinem Tischgenossen, würde man diese Leute für zehn Jahre in einen dunklen Keller sperren, hätten sie die ganze Zeit wohl genug zu erzählen. Der Saarbrücker hielt mitten in der Bewegung still und mit Worten: „Na so was, dafür habe ich keine Worte! So etwas möchte ich mir gar nicht anhören!“ raffte er das von mir gespendete Frühstück zusammen und zog an den Nebentisch. Und so oft wir uns noch unterwegs trafen, was nicht sehr oft war, grüßte er mich fortan nicht mehr. Aber Rachel war kein engstirniger Piefke aus
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