Bis ans Ende der Welt
Palazzo Pitti und sah müßig durch die verstaubten Uffizien, wo es außer uns nur noch drei Besucher gab. Ein Vierteljahrhundert später wollte ich wieder mal unbedingt den berühmten Perseus mit dem Haupt der Medusa von Benvenuto Cellini sehen, einen meiner Lieblinge. Bereits vor der Loggia dei Lanzi , wo die Statue steht, mußte ich mir den Weg durch schwatzende, schmatzende asiatische Horden bahnen, drinnen war es noch schlimmer. Man konnte nur stehen, ständig drängte sich wer geschäftig vorbei, grölend, schreiend, Wasser aus Plastikflaschen saufend, und als ich mich betört gegen eine Säule lehnen wollte, oh du Schreck, kam gleich ein uniformierter Wächter angerannt, entsetzt, ärgerlich: „Wo denken Sie hin, wenn es jeder tut! Es sind Millionen! Auch so müssen wir diese Säule alle zwei Jahre ersetzen. Sie wird weggegriffen!“ Das muß man sich vorstellen, einfach abgegriffen, eine dicke Steinsäule! Auch der Perseus dort ist nur eine Kopie, er wird wohl alle zehn Jahre von den Kameras einfach weggeblitzt. Addio Pèrseo, addio Firenze! Ich werde euch nicht wiedersehen. Ich habe mich losgemacht, und ihr habt mich freigegeben. Ihr habt die Termiten und die Termiten haben euch. Ich muß euch zu Pfingsten nicht mehr besuchen.
Wieder unterwegs, um einen schönen Stempel im Pilgerbuch reicher geworden, stieß ich auf der Straße gleich wieder auf Christoph, der eigentlich länger in der Stadt verweilen wollte, sich deshalb gar schon förmlich verabschiedete, nun aber wieder auf dem Camino war, und wir zogen gemeinsam weiter. Unterwegs quasselten wir mit Passanten, die einem Schwätzchen mit waschechten Pilgern nie auswichen. Am charmantesten war ein elfjähriges Mädchen aus Angola, das uns eine ganze Weile bis zum Stadtrand begleitete, um im drolligen Französisch über die Welt, die Schule und das Zuhause zu erzählen. Sie war erst kurz in der Schweiz, und alles schien ihr noch frisch und aufregend. Sie hatte den Schweizern bereits die guten Umgangsformen abgeschaut, mischte sie aber graziös mit dem deutlich lebhafteren Gemüt, das sie aus ihrer afrikanischen Heimat mitbrachte. „Man, wenn die einmal groß wird!“ stöhnte Christoph beeindruckt, und wir stiegen durch ein sonnendurchflutetes Wäldchen zu einem großen steinernen Pilgerkreuz hoch über der Stadt auf, dem man als Pendant einen riesigen Supermarkt baute. Über den fielen wir sogleich her, die Müdigkeit nicht achtend, und kauften ein, bis sich unsere Rücken bogen, und was wir nicht mehr im Rucksack unterbringen konnten, konsumierten wir in einem ausgedehnten Mittagsgelage unter dem Pilgerkreuz. Es ist ja so, daß es auf dem Camino Tausende Kirchen und Kühe gibt, aber nur wenige gut sortierte, körpergerecht klimatisierte, blitzblank gewienerte Supermärkte mit allem, was man seit Tagen oder gar Wochen vermißte, wo dezent die Musik spielt und adrette Assistentinnen einem beim Griff in die Regale aufmunternd zulächeln, man solle sich doch nicht genieren, mehr und noch mehr nehmen, und wo man den Rucksack nicht auf dem verschwitzten, schmerzenden Rücken trägt, sondern ganz kommode im Einkaufswagen spazieren fährt, frei und leicht und ein wenig gelangweilt, wie es ein aufgeklärter, vollmundiger Westeuropäer zu tun pflegt.
Nichtsdestotrotz schimpften wir schon kurze Zeit später ungeniert wie die Spatzen über die „gierigen Krämer“, die den Supermarkt „natürlich genau auf den Camino“ setzten, ohne sich um die Wegzeichnung zu kümmern, die wir nun mühsam suchten, dann freilich sowieso den falschen Weg nahmen und lange Zeit auf einer schnöden, schnurgeraden Landstraße unter praller Sonne, immer Autos, Busse und Traktoren im Nacken, marschieren mußten. Erst am Abend erreichten wir eine Ortschaft und fragten in einer Bar nach dem Weg. Verwirrung, Ratlosigkeit, Schulterzucken. Keiner schien je vom Camino gehört zu haben. Wir hätten genauso fragen können, wo es hier zum Mond gehe. Am Ende stand fest, daß wir bereits fünf Kilometer von der eigentlichen Route abwichen und kaum noch eine Chance hatten, an diesem Tag das Etappenziel zu erreichen. Wir beratschlagten. Den ganzen Weg zurückgehen? Christoph gab mir nur recht, daß der Fluß und der Pilger nur vorwärts fließen dürfen. Zur Wahl stand noch eine stark frequentierte Schnellstraße, wo wir vermutlich schon nach zehn Minuten überrannt worden wären, und ein saftig grüner Sportplatz bot sich als Nachtlager an, aber dort ging es bei einem Fußballspiel der
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