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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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kryptisch etwas vom „entscheidenden Spiel“ und anderem Zeug. Er meinte das Fußballspiel zwischen Deutschland und der Türkei, und es war ihm offenbar ein bitterer Ernst. Mir fehlt halt alle Leidenschaft für den sportlichen Wettbewerb, so dauerte es ein Weilchen, bis ich begriff. Der Plan war, unbedingt noch vor dem Anpfiff Lausanne zu erreichen. Dort am Seeufer könne man auf einer großen Leinwand das historische Ereignis verfolgen, protzte Christoph hoffnungsvoll. Unklar blieb, warum sich jemand Mühe und Kosten machen sollte, um eine solche Leinwand aufzustellen, und woher es Christoph wußte. Aber ich war grundsätzlich nicht dagegen. Diese vermaledeiten Türken, einfach hinterrücks das ganze zivilisierte Europa im Fußball schlagen! Wer sollte sie denn noch aufhalten, wenn nicht die tüchtigen Deutschen? Zuschauen war da patriotische Pflicht – mindestens! Schlecht daran war, daß wir noch sieben Stunden zu gehen hatten, und die ganze Tagesetappe betrug dann fast fünfzig Kilometer. So viel auf einmal bin ich noch nie gelaufen. Fast fünfzig Kilometer waren eine Art Schallmauer für mein kaputtes Bein. Die Blasen hüpften vor Freude.
    Um Mittag stach die Sonne heiß vom Himmel wie ein Feind auf uns nieder. Ein Gewitter im Aufzug? Die Kleidung klebte am Körper, der sauere Schweiß nach dem Trinkgelage fühlte sich schmierig an. Uns war unwohl, wir fühlten uns dreckig und geschafft. Die Stimmung war miserabel. Ich bestand darauf, in dem eiskalten Fluß nackt zu baden, während Christoph, störrisch wie ein Kind geworden, sich in einen weit am Hang gelegenen Wald verzog und dort ganze zwei Stunden verschlief, bis ich ihn telefonisch aufspürte und weckte. Er war einfach sonst nicht mehr zu finden. Wenn ich schon am Telefonieren war, rief ich auch noch die Mutter an. Nicht gut, sie hatte Schmerzen, weinte am Telefon, die Arme. Was tut man da, wie tröstet man? Ich erzählte, wie schön es hier sei, in der berglosen Schweiz am Ufer der eiskalten Broye. Geht der Schmerz weg davon? Hilft ein Gebet? Ich sprach zum Herrn darüber. Er versprach nichts, hielt sich bedeckt: „Mal sehen. Ihr seid Legion! Immer wollt ihr was, seltsame, fremde Dinge, jeder was anderes, widersprüchliches, nie seid ihr euch einig, nie seid ihr zufrieden! Was ist Schmerz, was ist Tod? Ihr seid sterblich, der Tod ist kurz, nur meine Herrlichkeit dauert, währt immer fort, ewig.“ Fremd.
    Das Gewitter kam nicht. Wir überwanden die Schwäche und legten ernsthaft an Tempo zu. Lausanne, wir kommen! Die Religion wechselte wieder zu katholisch, die Leute grüßten nicht nur zurück, sondern freudig und zuerst. Nur Deutsch wollten sie nicht mehr verstehen, auch der Gruß hatte nun auf Französisch zu sein. Eine große Umstellung. Achthundert Kilometern kam man gut und schallend mit „Grüß Gott“ aus, nun sollte man einen frugalen „Bon Jour“ wünschen? Aber nach ein paar Pfadfindergruppen, die uns begegneten und wie wir sehr grüßfreudig waren, kam es uns gar nicht mal so fremd vor. Freudig, sanft und melodisch klang es, sogar ein leiser Hauch von Jubel und Versprechen lag noch irgendwo in der hintersten Ecke. Und mit einem zum bloßen Hauch reduzierten „Messieurs-Dames“ konnte man der Sache gar einen frivol persönlichen Anstrich geben. Dem süddeutschen „Grüß Gott“ aber war beim bestem Willen nichts hinzufügen. Gott ist die letzte Instanz, da verbieten sich alle Frivolitäten von selbst.
    Unzweifelhaft kamen wir unserem Ziel schon recht nahe, auch wenn es vorläufig bloß Wald und Wiesen gab. Doch Lausanne konnte wirklich nicht mehr weit sein. Immer mehr Asphaltstraßen waren zu queren, diverse Freizeiteinrichtungen und Lokale kamen in Sicht. Und als sicheres Zeichen der Zivilisation war nun an allen Ecken die Polizei präsent. Natürlich ginge Rex nie und nimmer so weit, zwei an Muschel und Stab klar erkennbare Jakobspilger zu belästigen, die noch dazu akzentfrei melodisch französisch grüßen konnten. Rex wußte, daß man solche nicht in den Oberarm beißt. Aber ich fand inzwischen Gefallen daran, auch ohne staatliche Aufsicht zu atmen. Vielleicht war die Fußballmeisterschaft schuld daran, vielleicht auch die Tatsache, daß die Schweizer Großstädte doch nicht so harmlos und sicher sind, wie es der erste Anschein suggeriert. Wer mochte das wissen?
    Irgendwo über Lausanne gerieten wir mitten im Wald an einen seltsamen Aussichtsturm. Große Balken wurden hier zu einer Doppelhelix spiegelverkehrt zusammengesetzt.

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