Bis ans Ende der Welt
anzureisen. Ich stellte mich förmlich mit allen Titeln vor, Christoph erklärte ich zu meinem Diener und Bodyguard und drängte darauf, angemessen versorgt und untergebracht zu werden. „Ist der Chauffeur wirklich noch nicht da gewesen? Echt seltsam.“ Das brachten wir mit großem Ernst auf die leichte Art vor, so daß wir nach einer Weile die Burschen kirre machten, sie nicht mehr weiter wußten und angestrengt die Gästeliste konsultierten. Der Herr lachte irgendwo hinter den hundertjährigen Linden, und uns allen war wegen des Schwankes wohl zumute. Leicht und einfach war alles, es gab keine Sorgen, keinen Gram. Die Welt war ein Schloß in Feier. Keine größenwahnsinnigen Bauern mit Riesentraktoren verpesteten die Landschaft mit penetranter Geschäftigkeit und tonnenschweren Güllekübeln auf Ballonreifen. Die Wiesen blühten unter dem weißblauen Himmel einfach nur so vor sich hin, die Vögel machten den ganzen Lärm, der notwendig war, um sich nicht etwa vor Stille zu fürchten. In irgendeinem menschenleeren Ort übernachtete ich in einem sehr praktisch und komfortabel eingerichteten Kellerzimmer, das nicht einmal zu teuer war. Christoph hätte dort auch schlafen können, vielleicht sogar gratis, da unbemerkt, doch er zog das Sportgelände der örtlichen Schule vor. So währt man auch Privatsphäre.
In den vier Monaten auf dem Weg stieß ich etliche Male auf Menschen mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Alleinsein und Abgrenzung vor den anderen. Meist war es harmlos, doch es reichte bis zu Penetranz, Redeverbot, unverhüllter Feindseligkeit. Nicht wenige trugen außer dem Rucksack noch Kummer und Bürden, persönliche Krisen und andere unverdaute Fälle auf dem Buckel. Vielfach gaben sie den Ausschlag, den Camino zu nehmen. Sie mochten mehr als das Gepäck gewogen, schmerzhafter in die Schultern als die Rucksackriemen geschnitten, mehr als die blutigen Blasen auf den Füßen gebrannt haben. In Spanien gibt auf dem Camino es eine Stelle, wo man den Stein zurückläßt, den man als symbolische Last und Bürde mit auf den Weg nahm. Häufig wurde ich unterwegs nach meinem Stein gefragt. Der Brauch war mir zuvor nicht bekannt, und die Frage machte mich verlegen. Wie groß hätte mein Stein denn sein müssen? Irgendwie hat wohl jeder sein Kreuz zu tragen. Doch mir war Gesellschaft auch im Kummer ein Trost. Wo sie sich anbot, habe ich sie nie zurückgewiesen. Nie wollte ich unbedingt allein sein. Warum auch. Ich war ja meist allein, das war genug. Wollte es jemand anders haben, wollte ich nicht zu hochnäsig sein. Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer. Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. [21]
Christoph war nur ein milder Fall des Starrsinns, noch jung und suchend, mit Potential, eigentlich gut zu ertragen. Wir sahen uns gerne am nächsten Morgen wieder irgendwo unterwegs, redeten viel, liefen auch weite Strecken schweigend. Ich sprach von meinem Unfall und wie es zu dem Gelöbnis kam, und Christoph erzählte, er wandle den Camino teils aus Glauben, weil er zur Kirche gehe, aber es sei auch ein billiger Urlaub für jemanden wie ihn, der jung ist, reisen möchte und nicht viel Geld hat. Es sah aus, als ob er ausgezogen wäre, um sich in persona ein Bild von der Welt zu verschaffen und darüber ein Urteil zu fällen. Die Sache mit dem Urlaub ging mir dann aber noch eine Weile durch den Kopf, und ich war wohl nicht ganz einverstanden, da ich Urlaub irgendwie mit gutem Essen, komfortablem Wohnen, Faulenzen und Inderlufthängen verband, und das, was ich hier gerade tat, ließ alle diese Attribute bitter vermissen. Es war großartig, jawohl, das größte, das nachhaltigste Ereignis überhaupt, aber ein Urlaub? Nein, kein Urlaub! Eine Plackerei.
Wie zum Beweis stand es schon am Nachmittag fest, daß wir an diesem Tag das Ziel nicht schaffen werden. Müde geworden und größere Investitionen scheuend beschlossen wir in einem netten, frommen Dorf, die Übernachtung zu schnorren. Vielleicht hat uns der Blick durch die Glaswände des modernen Pfarrzentrums dazu verleitet. Schöne Teppichböden überall, darauf ließe sich bestimmt wunderbar schlafen. Und Waschräume gab’s gewiß zuhauf. Der Pfarrer wohnte irgendwo im ersten Stock. Beseelt und motiviert läuteten wir an der Pforte. Ein junger, behäbiger Mann im Zivil kam. Er kam zwar nicht sogleich, doch er kam, und einmal da, hörte er sich unser Anliegen geduldig an. Dann schwieg er eine Weile nachdenklich. Schließlich
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