Bis ans Ende der Welt
Geschmack von Pizza und Cola noch auf dem Gaumen, lag ich wie eine Riesenschildkröte im Rückenpanzer, schaute dem Mond zu und dachte an den schönen Tag, die grünen Hügel unter dem blauen Himmel, den Sand unter den Sohlen, den Herrn, der in der Kirche arm und elend am Kreuze hing.
Ich mußte wieder an den Psalm Davids denken: Er läßt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen. [22] Wie wörtlich erfüllte sich das Wort. Einmal vor vielen Jahren in den USA strandete ich durch ein Mißgeschick ohne Gepäck bei einem frommen Farmer. Die Familie feierte den Sonntag mit Grill und Barbecue, und wir zwei schossen hinter dem Trailer mit diversen Militärgewehren auf ein mit Kalk aufgeschüttetes Zielkreuz auf der anderen Talseite und sprachen über den Glauben. Der Mann machte sich Sorgen, daß die Menschen in Europa vom Glauben abfallen. Er richte sich immer nach der Schrift, schlage einfach eine Seite auf, und siehe, dort stehe die Lösung. Das kam mir sehr, sehr eigenartig vor. „Und was, wenn eine Kuh krank ist,“ fragte ich in der Hoffnung, eine eindeutig nicht biblisch zu lösende Lage anzusprechen, „lesen Sie dann auch in der Bibel nach dem Rat?“ Der Mann gab seinen Schuß, aus dem Kreuz drüben stieg eine kleine weiße Staubwolke auf. Er setzte das Gewehr ab, dachte nach und sagte: „Korrekt. Eigentlich funktioniert es immer.“
Die Nachtigall schlug an, dann der Kuckuck, dann wieder die Nachtigall, schließlich die Kirchenuhr. Ich trocknete mich ab und ging schlafen. In der Nacht aber wachte ich noch zweimal auf, sah über den schwarzsilbernen Gottesacker, hörte die Blätter rascheln und schrieb alles ins Gedächtnis ein – für andere, nicht so behagliche Tage, die vielleicht kommen mögen. Früh am Morgen, die Sonne stand gerade auf und blickte unsicher über die Friedhofsmauer, und auch wir waren schon wach und frühstückten Brot, Käse und Wasser, kam ein älterer Herr vorbei und fragte freundlich, ob wir denn gut geschlafen hätten. Wir bejahten, was ihn merklich glücklicher machte. „Das ist schön, hier ist es ruhig,“ strahlte er und ging. Nichts entgeht dem wachsamen Auge des Eidgenossen.
Kaum eine Stunde später standen wir schon vor Freiburg. Eine historische Steinbrücke führte über den tief darunter liegenden Fluß Saane, der sich hier in einem dramatischen Bogen eng um die mächtige Wehrmauer windet. Ihr gegenüber, hoch oben am felsigen Schluchtrand, pulsierte das krönende Grün alter Bäume, darüber stand ein klarer hellblauer Himmel wie ein Ausruferzeichen. Ein Teil des gewaltigen Panoramas lag noch im tiefen Schatten, Details waren aus der Ferne kaum zu erkennen. Kein Mensch war sonst da, kein Fahrzeug, kein Hinweis auf die moderne Zeit. Wir waren die einzigen Zeugen. Ein Jakobsjünger fünfhundert Jahre zuvor sah vermutlich dasselbe Bild. Wir staunten angemessen und zogen dann voller Erwartung durch das mächtige Stadttor und auf dem uralten Pflaster hoch und höher durch die steile Gasse wie wohl schon unzählige Pilger vor uns. Hier glaubte ich schon den Süden zu spüren, die Sonne lachte wieder, man sprach Französisch, sogar die Frauen waren schöner oder zumindest deutlich attraktiver als im germanischen Teil der Schweiz. Dort lebte und fror ich wie ein Hund, ein Vorbote des sonnigen Frankreichs konnte mir nur recht sein. Kein Freiburg, Fribourg hieß uns auf Französisch willkommen! Von wo über Jahrhunderte der wahre, einzige, katholische Glauben gegen die Wogen der Reformation und Säkularisation verteidigt wurde. Eine ziemliche Menge Bücher, die in der Klosterbibliothek durch meine Hände gingen, kam von hier. Keine einzige verschlossene, kreuzlose Kirche fand ich, alle Gotteshäuser luden offen und eintrittsfrei ein. Den Rucksack am Eingang hinschmetternd verbrachte ich in einer kühlen, großen Kathedrale lange mit Meditieren, Herumschlendern und Gespräch mit dem Herrn. Russen, Koreaner, Ungarn, Japaner und andere kulturinteressierten Weltenbummler waren zumindest an diesem Tage anderswo unterwegs. Ein Wunder wohl. Diese Termiten fressen sich durch Europas Kulturerbe, nimmermüde besetzen sie auch die langweiligsten Orte der Welt wie Interlaken, es gibt kein Entrinnen. Wehmütig dachte ich an den ersten und den letzten meiner vielen Besuche in Florenz. Das erste Mal, es muß am Anfang der siebziger Jahre gewesen sein, parkte ich meinen knallroten VW-Käfer, auf den ich sehr stolz war, noch direkt vor dem
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