Bis ans Ende der Welt
sei, könne auch mit gutem Recht einen Tag auf der faulen Haut liegen, war meine Devise. Dann aber fand ich immer mehr Lust und Vergnügen an dem unfreiwilligen Stadtbummel. Genf war es bestimmt wert, besucht zu werden. Über den lebhaften Geschäftsstraßen, bestückt mit glänzenden Mode- und Uhrenboutiquen, lagen stille alte Gassen, in denen man kaum einen Touristen sah. Die recht zahlreichen kleinen Hotels, Restaurants, Antiquitätengeschäfte und Galerien besagten, daß es sie gab, und zwar von der betuchten Sorte. Nicht aber an diesem Tag. Ich trieb mich stundenlang herum, saß entspannt in einem kleinen Park hinter dem Rathaus und sah den Angestellten zu, wie sie zu Mittag manierlich diszipliniert Salat und Baguette aßen und Wasser aus kleinen Flaschen tranken. Im Vergleich dazu schien mir meine Literpackung kühler Frischmilch geradezu unverschämt üppig. Ich trank sie trotzdem mit Vergnügen, las dann ein wenig in der Bibel und sann über das Gelesene und Gesehene nach. Ich hatte ja die ganze Zeit der Welt. Deutschland und Schweiz passierte ich schon, Frankreich lag zum Greifen nahe, ich war gesund und munter, wenn man von kleineren Blessuren absah, und der Herr war mir nie zu fern. Schön war der Tag, und viele andere schöne Tage lagen noch vor mir, auf die ich in Hoffnung und Zuversicht einfach nur zu warten hatte.
Dann aber erinnerte ich mich, daß ich hier in Genf noch eine wichtige Besorgung vorhatte. Einst kaufte ich nämlich eine teuere Schweizer Uhr, mit der ich aber nie so richtig froh wurde, weil sie sich verspätete. Normalerweise kauft man sich keine solche Uhr und hat sie auch gar nicht nötig. Es gibt genug gute preisgünstige Uhren auf dem Markt. Solche kann man zum fairen Preis auch regelmäßig reinigen und notfalls nachstellen lassen, wenn es mechanische Uhren sind. Oder man besorgt sich einfach eine neue Uhr. Wir sind ja eine Wegwerfgesellschaft, Plunder sammeln wir nicht. Doch einen Schweizer Chronographen schmeißt man nicht weg, dazu war er viel zu teuer. Den kann man sogar noch beim Pfandleiher versetzen. Doch die Wartung eines so prominenten Gegenstandes muß offenbar dem Anschaffungspreis angemessen sein. In diesem Fall kostete das Reinigen und Einstellen gleich mehrere Hundert Euro, und das sah ich nicht ein. Dafür hätte man eine ganze Schulklasse mit Uhren versehen können. Beim Kauf wurde das natürlich nicht erwähnt. Also nahm ich mir vor, ganz ernsthaft, eines Tages, wenn ich gerade in Genf bin, werde ich diese Firma aufsuchen und dort, sozusagen an der Quelle, meinen Unmut äußern. Natürlich versprach ich mir keinen Profit davon, so naiv war ich nicht. Aber trotzdem, es war ja eine Genugtuung, ein Plaisier sozusagen. Ich machte mich also gleich auf den Weg und erklärte zu gegebener Zeit einer attraktiven, höflichen Jungfer im engen Chanel-Kostüm, eine Omega-Uhr sei ein Wegwerfprodukt, da sich bei ihr die kleinste Reparatur wirtschaftlich nicht lohnt. Und bestimmt, setzte ich nach, werde ich mir auch keine zweite mehr kaufen. Während das erste Argument logisch schlüssig war, stand das andere bereits auf sehr schwachen Füßen, denn wer kauft sich denn gleich zweimal die gleiche Uhr? Und das eine Mal dürfte der Firma eigentlich auch schon reichen — bei dem Preis! Damit habe ich sie bestimmt nicht erschrocken. Und es war gewiß nicht zu erwarten, daß die Geschäftsführung sich entsetzt, wenn ein vorbeilaufender Pülcher ihr Produkt unangemessen findet. Wir trennten uns lächelnd freundschaftlich korrekt, wie es in der Schweiz absolut üblich ist, und damit war diese letzte Sache auch erledigt.
Ich passierte noch einmal die Pont de la Tour l’Ille über die Rhône und fühlte mich erleichtert. Große Mengen grünlich sauberen Wassers flossen unter der niedrigen Brücke, und ich starrte wohlwollend in die mächtigen Fluten, stellte mir ihren Weg von dem großartigen Waliser Rhonegletscher bis hierher und dann unbekannterweise noch weitere Hunderte Kilometer durch Frankreich im Geiste vor. Einmal wollte ich diesem Fluß im Boot folgen. Währendessen eilten Passanten an mir vorbei, von ihren holden Tagespflichten angetan. Man ertrug diesen letzten Wochenarbeitstag mit Würde und Antizipation. Der Herr meinte es gut mit der Stadt. So gebe ich euch Regen zur rechten Zeit; die Erde liefert ihren Ertrag, und der Baum des Feldes gibt seine Früchte; die Dreschzeit reicht bei euch bis zur Weinlese und die Weinlese bis zur Aussaat. Ihr eßt euch satt an eurem Brot und
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