Bis ans Ende der Welt
Das kleine Vorrat begleitete mich schon seit Interlaken. Ich sollte nicht verhungern, zumindest nicht an diesem Tage. Außerdem kann ich mich noch erinnern, daß der Weg steil auf und abging und mir recht mühsam vorkam. Der Gebirgskamm lag um die neunhundert Meter über dem Meer, den passierte ich bald, aber es folgte ein ziemlich zerklüftetes Gelände, und ich schlängelte mich hindurch in allen drei Dimensionen. Das Wetter besserte sich nun endgültig, und es herrschte eine große Hitze, der Boden war trocken und griffig. Sogar die Blasen waren am Verschwinden. Nicht die gemeinen, tief unter der Haut in der Ferse, die verabschiedeten sich endgültig erst am Ende der Pilgerschaft oder gar danach, aber die flachen, großen, wunden und entzündeten. Plötzlich schienen sie doch ausheilen zu wollen. Ich konnte wieder den ganzen Tag Bergschuhe tragen, kraftvoll ausschreiten, sogar vor Übermut einen Stein treten. Das lieber mit Vorsicht. Aber es war trotzdem eine harte Etappe, die ich in fröhlicher Einsamkeit und ehrfürchtigem Staunen absolvierte. Ein seltsames Phänomen, das mich noch auf der ganzen Strecke durch Frankreich begleite, zeigte sich hier zum ersten Mal. Der tiefblaue Himmel schien an den Rändern seltsam zu glühen, als ob ein großer Lichtstrahl hinter dem Horizont leuchten würde. So wie das zarte Weißblau des bayerischen Himmels, so wie das Blaugrün am Himmel meines Heimatgebirges, das auch in der Schweiz an manchen Stellen zu sehen war, so wie das abgrundtiefe Intensivblau über den Schweizer Gletschern, jedes Land schien einen ganz eigenen Himmel über sich zu haben. Irgendwo mitten auf der Strecke drehte ich mich zufällig um und konnte tatsächlich noch den mächtigen Jet d’au in der Ferne pulsieren sehen. Weiß stach er wie eine Eins von dem blauen, durch die Erdkrümmung gewölbten Hintergrund des großen Sees ab, winzig klein zwar, aber noch deutlich zu sehen, ein riesiger bunter Luftballon hing darüber. Genf winkte mir zum Abschied. Kurz vor Chaumont kam noch ganz gewaltiger Berg, mit dem ich nicht gerechnet habe, und der mir sehr zu schaffen machte. Fast eine Stunde saß ich nach der Ankunft dann niedergeschlagen herum, bis ich mich endlich imstande fühlte, zu duschen und die Kleider zu waschen.
Die Herberge in Chaumont ist allerdings eine recht rührige Angelegenheit. Im Führer zwar als Matratzenlager beschimpft, hängt sie wie ein Vogelnest über dem Ort, urromantisch, nur über enge, steile Stiegen erreichbar. Sie war völlig leer und keine andere Pilger kam an diesem Tag. Tee, Kaffee, Kakao, Milch und einige haltbare Lebensmittel gab es in der einfachen Küche. Ich trank gierig die ganze Milch aus dem Kühlschrank zu den letzten getrockneten Feigen aus meinem Schweitzer Vorrat. Die Toilette und eine primitive Dusche lagen schon einen Stockwerk tiefer, wo früher wohl ein Ziegenstall war. Auf der kleinen Wiese vor dem Eingang konnte man Wäsche trocknen. Dahinter gab es noch eine Sportvereinshütte und einen Spielplatz, wo einige fröhlich gesinnte Einheimische nach dem Grillen noch Wein tranken und Boule spielten. Der Tag neigte sich fröhlich dem Ende zu. Für uns alle war es ganz offensichtlich ein guter Tag, wie auch immer er einzeln gewesen sein mochte. Einer von denen, an die wir bald gar nicht mehr denken, weil alles so harmlos und glatt gelaufen ist, weil nichts unser Gemüt zu sehr erregte, uns kein Lottogewinn geschehen, aber auch kein bißchen Unglück plagte. Es war, worum wir im Vaterunser bitten: Führe uns nicht in Versuchung . An einem solchen Tag bleibt man auch nicht hungrig und durstig. Das ginge doch gar nicht, unser Werk und das Werk Gottes würden sich nicht fügen. Also beschloß ich, unten im Restaurant, das angekündigte „Pilgermenü“ zu versuchen, obwohl in meinem Finanzplan Restaurantbesuche nicht einkalkuliert waren. Aber ich war hier doch der einzige Pilger, das Pilgermenü war nur für mich da, auf einer kleinen schwarzen Schultafel kunst- und schwungvoll mit Farbkreide angekündigt. Und es war eine gute Entscheidung. Eine schmackhafte Gemüsesuppe, ein Rindsteak gerade richtig durch mit vielen Beilagen, Käse und Eis und Kaffee und eine ganze Flasche guten Rotweins für mich allein, all das perfekt serviert in einer attraktiven Umgebung. Dafür fünfzehn Euro zu zahlen war mir trotz leeren Taschen fast schon ein Vergnügen, sogar der reguläre doppelte Preis wäre mehr als nur gerecht. Statt wie die Deutschen und die Schweizer gutes Geld für
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