Bis ans Ende der Welt
wohnt in eurem Land in Sicherheit. [24] Touristen, Diplomaten, Geschäftsleute werden in die Stadt strömen und die Kassen füllen .
Frankreich
Beaumont, km 935
Auf Frankreich habe ich mich teils gefreut, teils aber habe ich mich davor auch gefürchtet. Gefreut, weil mein Schweizer Aufenthalt recht spröde ausfiel, gefürchtet, weil ich auf meinen bisherigen Reisen durch Frankreich, von denen es eigentlich nicht zu viele gab, oft Ärger hatte. Mit den flic , douanier , agent de police , du magistrat und all den anderen Haderlumpen, wie sie auch offiziell heißen mögen, die zahlreich, immer und überall auf harmlose Reisende lauern, sie schikanieren und abkassieren. Zwischen mir und Frankreich stand auch noch der unverschuldete Autounfall, bei dem meine Freundin schwer verletzt wurde. Und dieser Unfall spielte eine wichtige, wenn auch mir unverständliche Rolle bei der Entscheidung, mich zu verlassen. Aber all das lag schon viele Jahre zurück, und ich hatte so ein prickelndes Vorgefühl, es könnte diesmal besser werden.
Den komplizierten Weg durch die Genfer Altstadt habe ich schon den Tag zuvor auskundschaftet. Eine große blaugelbe Keramikmuschel aus dem Jahre 1631 auf dem Place du Bourg-de-Four markierte die Stelle, wo sich bereits im Mittelalter die Jakobspilger zur Weiterreise sammelten. Auf nach Frankreich! Es waren ja nur noch ein paar Kilometer bei gutem Wetter und relativ flach, geradezu eine Kleinigkeit nach all der Schweizer Schmach, ein guter Ausklang. So dachte ich. Doch schon einige Meter weiter überfiel mich ein Durchfall, und keines der umliegenden Hotels ließ mich die Toilette benützen, obwohl ich so früh am Tage noch adrett aussah. Es sei ein öffentliches WC in der Nähe, hieß es mit der üblichen Höflichkeit dargebracht, doch bis ich dieses fand, wurde ich ganz blaß um die Kiemen. Es hätte auch tragisch ausgehen können. Danach ging es noch stundenlang auf hartem Pflaster weiter, durch stille Außenbezirke, mit allen möglichen Landesflaggen in den Fenstern dort, wo Ausländer hausten. Ein kleines Gasthaus war geradezu eingehüllt mit tschechischen Fahnen. All das wegen der Fußballmeisterschaft. Am Abend zuvor retteten nämlich ausgerechnet die Russen das Abendland und schlugen die Türken, die sich wohl schon als Sieger wähnten. Wieder einmal die Russen. Nach Hitler, nach Napoleon, schon das dritte Jahrhundert in der Folge, ergossen sie sich über Europa und retteten, was es eben gerade zu retten gab. Auf sie war echt Verlaß. Die wilde Beflaggung aber war der Abschiedsgruß von dem Medienwahn und der Schweiz überhaupt. Es war sehr ruhig, kaum ein Mensch war zu sehen, kaum Autos, keine Haderlumpen, obwohl die Grenze nahe war. Wahrscheinlich haben sich alle am Abend zuvor physisch und emotionell völlig vorausgabt. Nun herrschte Frieden. Ich stampfte geduldig vorbei an stillen Häusern, den Jakobsmuscheln als Wegweiser folgend. Plötzlich, nach einer kleinen Allee und ein paar Gärten, entließ mich die Stadt, und ich fand mich auf der Landstraße wieder, passierte nur noch vereinzelt Häuser, Höfe und steinerne Pilgerkreuze, genoß Kühle, Ruhe und Kontemplation unter der toll bemahlten Holzdecke der romanischen Pilgerkirche Saint-Sylvestre. In der Mittagsglut sprang ich dann endlich über den kleinen Bach L’Aranda Rau, der die Grenze nach Frankreich markiert. „Vive la France!“ rief ich übermütig in die Runde.
Nun ging es wieder bergauf, erst recht bequem, dann aber immer steiler und steiler, bis ich mich fast nur noch kriechend hoch schleppte — keuchend, schwitzend, brennend. Aber ich klagte nicht. Ich war in Frankreich, eintausend Kilometer von zu Hause weg, alles zu Fuß, wenn man die frivolen Bootsfahrten nicht mitrechnete. Ich war gerührt, wie man als Pilger immer bereit ist, sich von Rührung und Mitgefühl mittragen zu lassen. Ein kleiner Anlaß reicht schon. Und der Herr, der sich in der Stadt der Krämer nicht blicken ließ, war nun wieder bei mir und führte mich zu einer kleinen Kapelle am Hang mit einer Einfriedung hinter der Steinmauer. Es muß irgendwann früher wohl ein Friedhof gewesen sein, nun aber stand es als duftende Kräuterwiese dem Pilger zur Mittagsrast frei. Dort genoß ich meine letzte Schweizer Mahlzeit mit Brot, Käse und Wasser, schloß Frieden mit der Schweiz und den Schweizern und lobte den Tag vor dem Herrn. Und er führte noch zwei Pilger heran, ein ganz junges Pärchen aus Konstanz. Die zwei waren genauso schlecht dran wie ich zuvor,
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