Bis ans Ende der Welt
von dem glühenden Berg völlig ausgelaugt. Ich sah ihre Augen vor Freude funken, als sie das kleine Paradies erblickten, und auch ein bißchen Zweifel darin, ich könnte sie wieder fortschicken. So jung und frisch und lieb naiv, wie sie noch waren, hätten sie sich es wohl gefallen lassen. Wie ich folgten sie dem Camino von Deutschland aus. „Nicht aus religiösen Gründen,“ meinte der Junge. „Vielleicht kommt es noch mal,“ setzte das Mädchen nach. Es war offensichtlich, daß es vor allem aus Liebe zu dem Jungen mitging. Sie marschierten einfach der Nase und den Wegzeichen nach, ganz ohne Führer und ohne Karte, im Freien schlafend, mit kaum Geld in der Tasche. Dem Mädchen schmerzten die Knie, es war ziemlich geschafft, aber ich glaube, glücklich. Ich spürte den Herrn ganz intensiv präsent und wagte zu beteuern, eine jede Pilgerschaft, aus gleich welchen Gründen begangen, werde Segen bringen. „Es kommt bestimmt,“ behauptete ich, als ob ich dazu ein Recht hätte. Der Herr war ja da, er konnte widersprechen. Und doch war ich mir sicher, in seinem Sinne zu reden. Das Mädchen lächelte dankbar, der Junge brummte verlegen, wie es Jungen eben glauben, tun zu müssen. Ich wäre gerne noch geblieben, noch fühlte ich mich nicht fit, aber ich wollte die zwei nicht stören. Also erhob ich mich steif und schwerfällig, machte mich auf den Weg und bat den Herrn, an meiner Stelle bei ihnen zu weilen. Die Unschuld braucht besonderen Schutz, sie ist so anfällig. Ich plagte mich also weiter bergaufwärts durch den heißen Nachmittag und wähnte sie erlöst in der Kräuterwiese vor der Kappelleneingang sitzen, über Belangloses reden, ins Tal blicken und im gemeinsamen Sein behaglich wohnen. Kostbare, anmutige Momente, selten gegenwärtig, und doch unvergeßlich, die auf unserem Lebensweg über uns wie Sterne leuchten.
Ich wanderte in guten Gedanken und war fast überrascht, schon so früh am Ziel zu sein. Es war nur ein gemeines Dorf, bloß ein paar Häuser am Hang um die kleine Bergstraße herum. Fast wäre ich achtlos vorbeigelaufen. Das Haus, das die Herberge sein sollte, stand gleich am Anfang. Zumindest stimmte der im Verputz eingearbeitete Name mit der Information im Führer. La Fromagerie. Es ist eines der Geheimnisse der französischen Kultur, warum auch die schnöde Bezeichnung einer Käserei auf der Fassade immer noch romantisch klingt. Mir gefiel es hier. Das alte Haus stand offen und leer, und nach den bisherigen Maßstäben kam es mir ungeheuer geräumig und gemütlich vor, obwohl andererseits auch ganz einfach. Meine erste französische Gîte d’étape , eine mit Charme und Charakter. Sie gehörte einer gutgelaunten, noch jungen Frau. Alles anderes als in der Schweiz. Und schon fühlte ich mich fast wie zu Hause, dann allerdings wieder wie ein Eindringling, weil alles so offen stand, und ich noch nicht wußte, was davon ich als Gast anfassen, mir nehmen dürfte. Ein Österreicher, der kurze Zeit später aus der Gegenrichtung kam, somit alles schon hinter sich hatte, gab sich gelassen. Es sei ganz einfach in Frankreich, nur reservieren müsse man für den Abend im voraus. Das machte mir vorläufig noch etwas Sorgen, denn ich hatte noch nie Gelegenheit, am Telefon Französisch zu sprechen. In einer fremden Sprache zu telefonieren, ist immer schwieriger, da man das Gegenüber nicht sieht. Der Österreicher jedenfalls war locker und optimistisch, das gab mir Mut. Später kamen noch zwei nette Mädchen, und wir waren eine echt nette Gesellschaft bei Tisch und Wein. Ich hielt mich ganz vornehm zurück, doch Wein und Gesellschaft hatte ich das letzte Mal in Einsiedeln, und es kam mir vor, als ob dazwischen ein ganzes Zeitalter gelegen hätte.
Chaumont, km 959
Von dieser Tagesetappe blieb mir seltsamerweise nur wenig im Gedächtnis. Der Führer spricht von zahlreichen interessanten Kreuzen und Kapellen, einem abwechslungsreichen Weg. Ich erinnere mich an den gepflegten Dorfkern um das Gemeindeamt, das im Französisch klangvoll Mairie heißt, so ganz in der Frühe noch völlig menschenleer, wo ich eine Weile etwas verloren herumstand, als ob mir der Mut zum Weitergehen fehlte. Geschäfte gab es hier keine, zuletzt ein ganz kleines in dem Weiler La Forge gleich nach der Grenze, aber da war über Mittag geschlossen. Doch von dem gedeckten Frühstückstisch in der Herberge nahm ich etwas Brot mit, irgendwo im Rucksack schwammen noch ein paar Sardinen in Öl. Auch noch ein paar getrocknete Feigen waren drin.
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