Bis ans Ende der Welt
lauter Deutsche, erzählte man hier in der französischen katholischen Schweiz. Ein rätselhaftes Phänomen. Es blieb ungesagt, ob nur Reichsdeutsche oder damit auch Österreicher und die deutschsprachigen Schweizer Bundgenossen gemeint waren. Aber da war was dran. Alle Pilger, die ich bis dahin traf, waren der Sprache nach deutsch. Auch wenn es vorläufig nicht viele waren. Manchmal waren sie etwas sperrig und kompliziert, hatten vielleicht auch eine Last im Leben zu tragen. Menschliche Begegnungen sind, so schließe ich aus Erfahrung, ein wesentlicher Teil des Unterwegsseins auf dem Camino. Sie sind nachhaltiger als im Alltag. Noch lange Zeit später erinnert man sich des Anderen, dem man ja nur zufällig kurz begegnete, mit einem Gefühl, einer Intensität, als ob man direkt vor ihm stünde. Man hört die Stimme, die Geschichte, die er erzählte, und spricht erneut die Fürbitte, um die man gebeten wurde, wenn man Santiago erreiche. Auf über dreitausend Kilometern kommt so ein großer Haufen zusammen, den man mitträgt, mitleidet. Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen . [23] Eine Parallele zum menschlichen Lebensweg tut sich im Camino auf. Man kommt und geht, trifft und scheidet, nimmt und gibt, nichts wissend, bestenfalls ahnend, bis man eines Tages ankommt und alles ganz anders wird, als man dachte beziehungsweise auch nicht dachte.
Ich bestieg das Schiff mit freudiger Erwartung eines Kindes. Zu Tränen gerührt war ich über diese Pilgerreise und die atemraubende Gottesschöpfung um mich herum. Sogar das Trampeln der Passagiere, ihre emsige Suche nach dem besten Platz, das ameisenhafte Treiben der mitreisenden Schulklassen machte mir Freude. Das Schiff war wieder ein alter Schaufelraddampfer, aber sobald es ablegte, lief es gleich rasend schnell. Oder es kam mir nur so vor, weil ich schon zu lange nur im Tempo eines Lastenträgers durch die Landschaft schlich. Mein Kopf drehte sich, wenn ich nur auf das rückwärts fliegende Wasser sah. Der Blick zum Ufer war da schon sicherer, und ich stellte auch fest, daß der Genfer See vom Schiff aus viel interessanter ist als vom Land. Natürlich ging es auch hier nicht einfach dorthin, wohin ich wollte. Erst wurde Hermance am gegenüberliegenden südlichen Seeufer angesteuert. Frankreich umzingelt hier Genf von drei Seiten, ist wörtlich nur ein paar Schritte entfernt. Nur ein schmaler Uferstreifen und der Wasserweg sichern die Verbindung. Im zweiten Weltkrieg trafen sich hier an der Grenze zwischen der formal zwar neutralen, doch gar nicht so unbeteiligten und unbefleckten Schweiz und dem besetzten Frankreich Politiker, Agenten und Spekulanten beider Kriegslager, um ihr mieses Gewerbe zu betreiben. Bereits im Mittelalter nutzten die Savoyen Hermance als Stützpunkt gegen die Genfer Herrschaft und umgekehrt. Eine hochrangig geschichtsträchtige Ecke also. Der kleine Ort machte auf mich auch einen düster romantischen Eindruck, und ich bedauerte sehr, auf dem Schiff bleiben zu müssen, während die Schulklassen mit Getöse ans Land gingen. Der Pilger ist ja kein Tourist, es treibt ihn immer weiter, immer weiter fließt der Fluß.
Genf war mir ein wichtiges Etappenziel. Nicht nur wegen der Erholungspause. Es war auch so etwas wie ein Sprungbrett nach Frankreich, die allerletzte Station in der Schweiz, und nicht zuletzt der letzte Ort, wo man sich noch auf Deutsch verständigen konnte. Das sah das junge Fräulein in der Jugendherberge auch so. Es freute sich, wieder einmal in der Muttersprache zu reden, und rechnete den etwas geringeren Preis eines Jugendherbergsmitglieds, obwohl ich doch keinen Ausweis hatte. Der ruhte ja dank der Fürsorge der Deutschen Post sanft in Leipzig. Sie stamme aus Flüeli Ranft, erzählte sie fröhlich. „Wo die Schlucht ist, da sind Sie doch bestimmt durch.“ Ich bejahte enthusiastisch, und wir freuten uns aufrichtig, soviel Gemeinsames zu haben. Die Herberge lag unweit der Uferpromenade, von der Schiffsanlegestelle hatte ich nicht weit zu laufen, und alles, was ich unterwegs sah gefiel mir. Einschließlich des Fräuleins aus Flüeli Ranft.
Natürlich war auch diese ansonsten sehr ordentliche Herberge nur ein herzbrechendes Massenlager, bevölkert von den allermerkwürdigsten Typen. Draußen vor dem Haus trieben sich gelangweilt kleine Gruppen herum, als ob es in Genf sonst nichts zu tun gäbe, drinnen im Aufenthaltsraum hingen andere, schweigsam gewichtig auf den Bildschirm starrend, am Internet. Große
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